Freitag, 5. August 2011

Manchmal ist man nur für ein einziges Kind da

Äußerlich betrachtet ist der Lehrer für alle Kinder in der Klasse zuständig und wird sich um die Förderung aller Kinder in bestmöglicher Weise bemühen.

Nun gibt es aber auch eine tiefere Betrachtungsmöglichkeit. Rudolf Steiner erwähnt, dass es sein kann, dass er einen Vortrag vor vielen Menschen hält, dass aber in Wahrheit der Inhalt des Vortrags geistig nur an einen einzigen Menschen gerichtet ist. Natürlich haben alle Zuhörer sehr viel von dem, was ihnen der Geistesforscher mitteilt, aber für den Vortragenden selbst besteht die Kraft- und Inspirationsquelle in dem einen, an den er sich gezielt richtet.

So wird auch der Lehrer öfter handeln. Er wird sich besondere Gedanken um ein einziges Kind machen und er wird den Unterricht am nächsten Tag ganz auf dieses eine Kind zuschneiden. Dennoch werden alle anderen auch zu ihrem Recht kommen.

Vielleicht hat er aus der Sorge um ein Kind eine sinnige Geschichte ausgearbeitet. Diese hören natürlich dann alle Kinder und sie werden alle von dieser Geschichte ergriffen sein.

In der Bemühung des Lehrers um das einzelne, konkrete Kind liegt eine sehr starke, konzentrierte Kraft, die eine große Wirksamkeit entfalten kann. Denkt der Lehrer, er muss allen gleichzeitig gerecht werden, dann beginnt etwas in seiner Kraftkonzentration zu verschwimmen.Er wird allgemeiner, weniger konkret. Das schwächt die Wirksamkeit für alle Kinder.

Es kann sein, dass man ein sehr schwieriges Kind in der Klasse hat, das alle Energie und Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich zieht. Manch ein Lehrer wird nun geneigt sein, zu sagen, dass er so nicht weiter unterrichten könne. Die anderen Kinder in der Klasse kämen so nicht mehr zu ihrem Recht. Er könne sich nicht genügend auf sie konzentrieren. Oft muss dann dieses Kind die Klasse verlassen.

Man kann aber auch den Gesichtspunkt einnehmen, dass dieses Kind aus Schicksalsgründen eben gerade in diese Klasse gehört. Es kann deshalb die Aufgabe dieses Lehrers sein, besonders für dieses eine Kind dazusein. Seine Bemühung um dieses Kind bedeutet eine unwägbare Kraftwirkung, die für alle Kinder in der Klasse Bedeutung hat. Allein schon der Gedanke, dass alle Kinder miterleben, wie ein Mensch all seine Kraft und Liebe einem anderen zuwendet, um ihm zu helfen, kann für ihr ganzes spätere Leben eine Richtschnur werden.

Ich habe es erlebt, dass ein Lehrer ein Kind große Teile des Unterrichtes an der Hand nehmen musste, während er unterrichtete. Manchmal musste er es sogar richtig fest halten – mit beiden Armen, damit es zur Ruhe kam. Er unterrichtete dabei weiter. Nach einiger Zeit hatte sich die Klasse an solche Situationen gewöhnt und ließ sich davon nicht mehr ablenken, weil der Lehrer in Gelassenheit weiter unterrichtete. Sonderbarerweise gab es von Seiten der Kinder – und dadurch auch von Seiten der Eltern – nie Klagen über diese Situation. Im Gegenteil war das Gespräch auf Elternabenden über diese Situation viel mehr von Verständnis, Sorge und und Mitgefühl geprägt.

Auch die Wahl oder Inspiration für ein Klassenspiel kann sich auf ein einziges Kind in der Klasse beziehen. Man hat da ein Kind und denkt sich, es passe genau für diese oder jene Hauptrolle eines bestimmten Theaterstückes für genau dieses Kind. Es verkörpert vielleicht dieses in seinem Sein und Wesen eigentlich diese bestimmte Rolle schon ein wenig. Dies ist ein ganz anderer Gesichtspunkt, als wenn man denkt, dass ein Stück zu einer ganzen Klasse passen muss. Aber es können bestimmte Schicksalsgründe vorliegen, dass man die Entscheidung ausschließlich für ein einziges Kind fällt. Das Spiel wird dennoch für alle Kinder eine große Freude und ein großer Erfolg werden.

Für den Fortschritt unserer Kultur und der ganzen Menschheit brauchen wird ein Bewusstsein für die Bedeutung des einzelnen, individuellen Menschen. Die daraus entstehende Kraft und Liebe strahlt wie ein heller Stern in den Umkreis. Ich sage bewusst, wie ein Stern und nicht wie eine Sonne. Denn die Wirkungen der Sterne sind für die heutige Menschheit noch viel zu verborgen und unbekannt. Was aber wie eine Sonne strahlt, das sind die Dinge, die jeder bemerkt und einsehen kann.

Wir sollten deshalb in unseren pädagogischen Bemühungen viel mehr solche sternhaften Taten vollbringen, die äußerlich nur sehr zart strahlen – man sieht sie nur bei Nacht, d.h. bei geistiger Bemühung- , wenn man ihnen aber näher käme, würden sie zu gewaltig strahlenden Sonnen werden.

Persönliche Anmerkung:
Einmal hatte ich ein solches Klassenspiel gewagt, das ganz auf ein einziges Kind zugeschnitten war, das dann auch wirklich die Hauptrolle übernahm. - Man weiß ja vorher nie, ob sich auch alles ohne, dass der Lehrer es autoritär erzwingt, so fügen wird. Man muss dabei auch hoffen, dass die Engel mitwirken. - Als wir dann in die intensiver Probenphase kamen, etwa zwei Wochen vor der Aufführung, da meinte dann dieses Kind, es wolle die Rolle nicht mehr spielen und weigerte sich, weiterzuproben. Es war in eine Krise geraten. Alles drohte zu zerbrechen. Einige Tage später hatte es diese Situation wieder überwunden. Es wurde schließlich eine schöne Aufführung.