Freitag, 23. Mai 2008

Zeugnisse

Zeugnisse schreiben – Freud oder Leid?


Wenn man sich in der Waldorflehrerschaft umhört, dann hat man manchmal das Gefühl, dass „für eine große Zahl der Lehrer die Zeugnisse ... eine ... Last geworden sind“ wie Steiner es schon 1924 (s.u.) einmal formulierte.

Wie ein fast unüberwindlicher Berg türmt sich diese Arbeit vor manch einem pflichtbewussten Waldorflehrer auf. Bei unseren Waldorfklassen, in denen häufig über 30 Kinder sind, kann allein die physische Schreibarbeit dem Lehrer oder der Lehrerin erhebliche Schmerzen verursachen. Der Zeitdruck verstärkt den Stress und die Anspannung. Dann will man vor den Sommerferien noch Klassenfahrten und Ausflüge durchführen. Meist gehört auch ein Johannifest und eine letzte Monatsfeier zu den normalen Aufgaben, die besonders die Klassenlehrer zu verantworten haben.

Die Fachlehrer wiederum betreuen verschiedene Klassen und die Anzahl ihrer Zeugniseinträge übersteigt oft schnell die Hundert und überschreitet gelegentlich auch die Zweihundert.

Wie kann man diese große Aufgabe bewältigen? Wie kann man sie ordentlich erledigen? Wie kann man dem Zeugnisschreiben mehr positive Aspekte abgewinnen?


Die Länge der Texte


Grundsätzlich stellt sich die Frage, müssen die Texte so lang sein, wie man sie häufig vorfindet? Könnte nicht auch weniger oder kürzer, mehr sein oder mehr bewirken?

Die Länge der Zeugnisse kommt besonders daher, dass man für den Hauptunterricht z.B. über alle Epochen eines Schuljahres im Zeugnis berichtet. Und im Fachunterricht ist es so, dass gewissermaßen jeder Fachlehrer das Zeugnis in „seinem eigenen Kämmerchen“ schreibt. Dabei will jeder in aller Kürze ganz viel Wichtiges ausdrücken. So addieren sich in den Zeugnissen die vielen Texte und Aussagen der verschiedenen Lehrer zu einer großen Fülle. Aber die Frage ist, inwieweit sich die Einzelheiten zu einer Gesamtheit oder zu einer Einheit zusammenschließen.

Liest man z.B. mehrere Hauptunterrichts-Zeugnisse einer Klasse nacheinander durch, dann kann man häufig feststellen, dass sie schematisch aufgebaut sind: Man findet oft eine Einleitung, die das allgemeine Verhalten eines Schülers charakterisiert, dann wird Epoche für Epoche beschrieben. Ähnlich können auch die Fachzeugnisse aufgebaut sein.

Nun ist es ja so, dass die Zeugnisse in erster Linie für die Eltern geschrieben werden. Diese sollen das alles lesen und angemessen aufnehmen. Der Effekt ist aber für die Eltern der, dass je mehr Aussagen in einem Zeugnis getan werden, desto mehr verliert die Einzelaussage an Gewicht. Man kann die Wirkung der Zeugnisse durchaus einmal von der psychologischen Seite aus betrachten. Viele Zeugnisse sind verwirrend. Es steht so viel darinnen, dass man als Vater oder Mutter am Ende nicht mehr weiß, was man am Anfang gelesen hat. Für das, was die Lehrerschaft häufig mit den Zeugnissen beabsichtigt, bräuchte man eigentlich besonders geschulte Eltern, die die Inhalte in richtiger Weise studieren, verdauen und verarbeiten können.

Der zunehmende Einsatz des Computers unterstützt noch die Tendenz zu immer längeren Texten und vermehrt so die Arbeit für Lehrer und Eltern.

Welche Wege man beschreiten könnte, um die Wirkung der Zeugnisse effektiver zu machen und die Arbeit für den Lehrer in einer anderen Art zu gestalten, dafür sollen in den nachfolgenden Ausführungen einige Anregungen gegeben werden, die sich aus den Hinweisen Rudolf Steiner ableiten lassen.



Biographisches über das Jahr


Zunächst ein paar vom Inhalt her meist bekannte, grundsätzliche Äußerungen Steiners zum Thema „Textzeugnisse“.

Im „Weihnachtskurs für Lehrer“ gehalten in Dornach charakterisiert er am 30.12.1921 die neuen Waldorfzeugnisse in folgender Weise:


Das Kind bekommt, wenn es am Schluss des Jahres in die Ferien geht allerdings ein Zeugnis. Da steht aber eine Art vom Lehrer ganz individuell für das Kind verfasstes Spiegelbild drinnen, etwas Biographisches über das Jahr, und es hat sich überall gezeigt, die Kinder nehmen das mit einer großen Befriedigung auf. Sie lesen da ihr Bild, das man entwirft mit einem entsprechenden Wohlwollen, aber durchaus nicht gefärbt, nicht etwa, dass man etwa irgendwelche Schönfärberei dabei übt. Sie nehmen das mit einer großen Befriedigung hin. Und dann lassen wir einen Spruch folgen, ganz individualisiert für jedes Kind, den jedes Kind in sein Zeugnis hineingeschrieben bekommt. Und dieser Spruch bildet dann für das nächste Jahr eine Art Lebensgeleitspruch. Das ist etwas, was sich, wie ich glaube, schon bewährt hat und auch später noch bewähren wird, mag man es auch sonst nach einem in den letzten Jahren in Deutschland beliebt gewordenen Ausdrucke „Zeugnisersatz» nennen.“ (GA 303, S. 155)



Etwas später (22.6.1923) äußert er sich in einer Ansprache vor Eltern in der ersten Waldorfschule in Stuttgart über die Zeugnisse und betont dabei den Aspekt der Begegnung zwischen Lehrern und Eltern, die in der Waldorfschule eine große Bedeutung habe. Dahinter steht die Tatsache, dass zur damaligen Zeit das Interesse vieler Eltern an der Schule weitaus geringer war als heute. Das staatliche Schulwesen war damals noch autoritärer geprägt als heute und deshalb war auch in der Waldorfschule die Zurückhaltung der Eltern größer, als man das von heute kennt.



Sie wissen, wir geben nicht solche Zeugnisse mit den üblichen Noten wie an öffentlichen Schulen. Wir versuchen, das Kind zu charakterisieren, auf die Individualität einzugehen. Erstens: Sitzt ein Lehrer über der Gestaltung der Zeugnisse und ist sich seiner Verantwortung bewusst, so tritt ihm Rätsel über Rätsel vor das seelische Auge, und er wägt jedes Wort, das er prägen soll. Eine große Erleichterung ist es ihm dabei, wenn er den Eltern gegenübergestanden hat, nicht wegen der Vererbungsverhältnisse, um die sich heute allein der Materialismus kümmert, sondern er sieht die Umgebung, und alles erscheint dann erst im rechten Lichte. Dabei hat man nicht nötig, in indiskreter Weise die Eltern selbst zu beurteilen, sondern er will eben in freundschaftlicher Weise sich den Eltern gegenüberstellen. Wie ich einen Brief an Bekannte und Unbekannte anders schreibe, so auch die Zeugnisse über Schüler mit bekannten und unbekannten Eltern.


Zweitens sollte der Lehrer eigentlich sicher sein, dass ein liebevolles Interesse im Elternhause ruhen würde auf solchen

Zeugnissen...“ (GA 298, S.193)


Die ersten Entwicklungsschritte der Waldorfzeugnisse


Durchaus aufschlussreich ist es, die Entwicklung der Textzeugnisse anhand der Mitteilungen in den Konferenzen historisch nachzuvollziehen. Das Textzeugnis gehört wie die gesamte Waldorfpädagogik zu den revolutionärsten Neuerungen im Erziehungswesen überhaupt.

Nach der Begründung der ersten Schule in Stuttgart musste ein Weg gefunden werden, wie diese Zeugnisse gestaltet werden sollten. Da war die Frage, wie viele Zeugnisse es geben sollte. Zunächst spricht Steiner von zwei Zeugnissen: dem Zwischenzeugnis und dem Jahreszeugnis.

Wie man später einer Bemerkung Steiners entnehmen kann, scheint von Seiten der Eltern die Forderung nach einem Zwischenzeugnis nicht erhoben worden zu sein. So blieb es beim Jahreszeugnis. Hätten die Eltern nachgefragt, dann hätte es ein Zwischenzeugnis gegeben. Man verkennt oft, wie sehr Rudolf Steiner in vielen Dingen auf die Fragen und Bedürfnisse der Menschen um sich herum eingegangen ist. Er hat geradezu immer auf die Fragen gewartet und dann innovative Lösungen angeboten.

Heute kann man ein gesteigertes Informationsbedürfnis vieler Eltern über den Lern- und Entwicklungsstand ihrer Kinder erleben. Man sieht das an der Nachfrage nach Lehrersprechstunden oder Elternsprechtagen. So dass es vielleicht überlegenswert wäre, ob eine zeugnisartige Mitteilung an die Eltern im laufenden Schuljahr ganz abwegig ist. Gerade bei Eltern, mit denen man aus den verschiedensten Gründen nicht so leicht ins Gespräch kommt, könnte eine kurze Mitteilung zur Mitte des Schuljahres durchaus sinnvoll erscheinen. Die Mitteilung während der laufenden Arbeit hat einen ganz anderen Charakter als der Rückblick auf ein vollendetes Schuljahr. Vieles in dieser Hinsicht geschieht ja sowieso bei Elterngesprächen. Aber manche Eltern erreicht man leichter schriftlich.



Die erste Bemerkung zu Zeugnissen in den Lehrerkonferenzen findet man in der Konferenz vom 23.12. 1919:

Es wird nach Zeugnissen gefragt:

R.St.: „Da müsste festgestellt werden, was vorgeschrieben ist. Wir können zwei Zeugnisse geben, eines in der Mitte des Jahres als Interimszeugnis und eines am Ende des Schuljahres. In diesem Zeugnis soll, soweit das die geltenden Bestimmungen zulassen, nur allgemein über die Schüler gesprochen werden. Es soll der Schüler charakterisiert werden und nur dann, wenn ein Fach besonders bemerkenswert ist, soll das erwähnt werden. Es soll alles möglichst gut zensiert werden. ... Beim Übergang in eine andere Schule muss das testiert werden, was von der betreffenden Schule verlangt wird.“ (GA 300/1, S.116)


Ein Lebensdokument


Ein Waldorfzeugnis ist ja ein wichtiges Lebensdokument. Vielleicht machen wir uns manchmal die Bedeutung dieses Dokumentes nicht ganz deutlich. Wer ein wenig Erfahrung mit dem Erstellen eines Berufszeugnisses für einen betrieblichen Mitarbeiter hat, der weiß, wie vorsichtig man im Berufsleben mit einer schriftlichen Beurteilung eines Menschen sein muss. Jede negative Formulierung ist angreifbar, denn der Mensch fühlt sich schnell in seiner Würde verletzt. Auch in unseren Kindern macht sich immer stärker das Gefühl der eigenen Ichheit bemerkbar und die Würde des Kindes ist fast so verletzlich wie die eines Erwachsensen.

Nun macht es einen eminenten Unterschied, ob ich z.B. einen Tadel mündlich äußere oder ob ich ihn schriftlich niederlege. Hat man die Sache einmal „schwarz auf weiß“ oder eben „tintenkönigsblau auf weiß“ vor sich, dann ist sie wie manifestiert. Meine vergangenen Taten werden archiviert. Man kann sie nicht mehr abschütteln. Werden sie mündlich ausgesprochen, dann bleibt eine gewisse Freiheit. Letzteres wirkt mehr in die Zukunft, gibt Chancen und Hoffnungen.

Deshalb spricht im obigen Zitat Rudolf Steiner davon, dass alles möglichst gut zensiert werden soll. Dabei ist es wichtig, dass man mit den Eltern im Kontakt steht; natürlich auch mit den Schülern. Die Schüler sollen immer wissen, wie sie stehen. Hier ist ständig ein offenes Feedback gefordert.

Generell könnte man sagen: In der schriftlichen Mitteilung ist es günstiger, wenn alles von einem positiven Licht beleuchtet wird. Die schwierigeren Dinge übermittelt man besser mündlich im Elterngespräch.

In diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis Rudolf Steiners (s.u) zu verstehen, dass das damals übliche Zeugnisheft – die Zeugnisformulare für die kommenden Schuljahre waren wohl in einem Heft bereits vorgedruckt zusammenfasst und wurden Jahr für Jahr ausgefüllt – perforierte Seiten enthalten sollte. Warum? Das Kind sollte die Möglichkeit haben, weniger schmeichelhafte, alte Zeugnisse herauszulösen und verschwinden zu lassen.



Fachzeugnisse und Hauptunterrichtszeugnis


Zunächst finden wir im obigen Zitat die Bemerkung, dass ein Fach nur dann erwähnt werden soll, wenn es besonders bemerkenswert ist. Es war also in der Entstehungszeit der Waldorfzeugnisse noch unentschieden, wie man die Fachunterrichte aufnehmen wird.

Nun ist die Frage des Zusammenklangs der Hauptunterichts- und der Fachzeugnisse eine ganz entscheidende. Wir Waldorflehrer sind ja als „Erziehungskünstler“immer wieder aufgefordert, alle Dinge auch künstlerisch anzugehen. So bietet es sich an, auch beim Zeugnisschreiben ein wenig künstlerisch vorzugehen. So ist der Klassenlehrertext wie der Stamm eines Baumes, aus dem dann noch viele Äste sprießen, die Fachzeugnisse. Wie die Äste organisch zum Baum gehören und seiner Gestaltungskraft entsprechen, so sollten auch die Fachzeugnisse mit dem Hauptunterrichtszeugnis zusammenklingen. Ein jeder Baum hat natürlich starke und tragende Äste neben kleineren und schwächeren; so hat ein Kind stärkere oder schwächere Neigungen. Aber eine Eiche kann eigentlich keinen Birkenast hervorbringen. Wenn das im Zeugnis so erscheint, dann hat man irgendwo die Individualität des Kindes nicht erfasst oder ist nicht auf sie eingegangen. Der Choleriker bleibt z.B. immer cholerisch, im Schreiben genauso wie in der Eurythmie. Auch wenn er in dem einen Fach Unordnung hervorbringt und im anderen Großes leistet. Aber wenn jeder Lehrer nicht nur auf das Äußerliche eingeht, sondern immer auch mit Ehrfurcht und Liebe die Individualität eines Kindes ein klein wenig hindurchleuchten lassen kann, dann wachsen die Inhalte von alleine zusammen.

Steiner dachte es sich so, dass zunächst der Klassenlehrer den Haupttext schreibt, dann die Fachlehrer sich organisch anschließen.

In der Praxis ist es meistens so, dass fast alle Kollegen ihre Zeugnisse für sich zu Hause schreiben und später wird alles zusammengefügt. Ob die Dinge dann zusammenklingen, ist so eher dem Zufall überlassen. Es kann natürlich sein, dass Klassen- und Fachlehrer so häufig zusammensitzen, dass alle ein gemeinsames Bild eines jeden Schülers haben. Dann wird man das auch in den Zeugnissen spüren.

Sollte aber das Zeugnis ein einheitliches Bild des Schülers abgeben, dann ist es hilfreich, wenn zuerst der Klassenlehrer seinen Text den Fachlehrern zur Kenntnis geben kann, und diese anschließend ihr Bild des Kindes formulieren würden.





Bemerkungen in der Konferenz vom 14.6.1920:

Es wird nach den Zeugnissen gefragt.

Dr. Steiner: „Wir sprachen schon einmal darüber. Man müsste schon einzelnes hervorzuheben versuchen, aber nicht in pedantischer Weise. Man müsste versuchen, vielleicht doch am Anfang nur die Personalien zu haben, und dann für jedes Kind zu individualisieren. Dass man zum Beispiel schreibt: "E. liest gut, erzählt anregend", und so, dass man sich selbst den Text bildet. Einen Satz, der frei gegeben ist und in dem man das unterstreicht, was sonst als einzelne Fächer gegeben ist. Vielleicht ist es notwendig, alle Fächer anzuführen, vielleicht nicht. Ich würde das Zeugnis so drucken, dass es nur einen Kopf hat: "Freie Waldorfschule, Jahreszeugnis des Schülers . .“und in der Mitte Platz, dass man schreiben kann.

Jeder wird nach seinem Genius den Schüler charakterisieren. Wenn mehr Lehrer in Betracht kommen, muss jeder einschreiben. Aber es wäre wünschenswert, dass sich die einzelnen Aussagen nicht allzu stark widersprechen; wenn der eine sagt: "Er liest ausgezeichnet", der andere auch etwas sagt, was dem entspricht. Nicht wahr, es fängt einer an, den Schüler zu charakterisieren, derjenige, der sein Klassenlehrer ist. Die anderen schließen sich an. Es kann nicht gut der Klassenlehrer schreiben: "Es ist ein ausgezeichneter Junge", und dann schreibt jemand anderes: "Das ist ein kleines Scheusal." Das muss man schon verschmelzen. .....


X.: Ist eine Kontrolle nötig, dass die Zeugnisse vorgezeigt werden?

Dr. Steiner: „Ich würde einfach die Einführung machen, dass die Eltern, welche wünschen, dass ihre Kinder wieder aufgenommen werden sollen, ihren Namen unter das Zeugnis des vorigen Jahres setzen mögen. Wenn sie nicht mehr kommen, brauchen wir darüber keine Vorschrift zu machen. Wenn sie wiederkommen wollen, sollen die Eltern den Namen daruntersetzen. Es ist ja gegangen ohne Zwischenzeugnis. Ist das verlangt worden von den Eltern, ein Zwischenzeugnis?

Ja, das Kind meldet sich und bringt das Zeugnis, bekommt es am Ende des Jahres wieder, wenn es schon ein Heft ist. Gewiss kann es ein Heft sein, perforiert. Nehmen Sie an, ein Kind ist anfangs schlecht, man muss ihm Tadel hineinschreiben, und es wird dann später besser, dann hat es vielleicht ein Interesse daran, die vorhergehenden Zeugnisse wegzunehmen: also perforiert.

Da kann man ja etwas, was nicht ganz lobend ist, schreiben. Sie können nicht diesen beiden Kindern das Zeugnis ausstellen, dass sie ausgezeichnet schreiben, aber man kann es schon so fassen, indem man, ohne zu zensieren, charakterisiert, wie weit das Kind im Schreiben ist. Bei dieser kleinen M., da würde ich schreiben: "Hat es noch nicht weiter gebracht, als zum mühsamen Nachschreiben einfacher Worte, wobei das Kind sehr häufig unnötige Striche an die Buchstaben anfügt." Die Kinder charakterisieren!“ (GA 300/1, S.147 f)



Tadelnde Äußerungen


Es kann vorkommen, dass man in einem Zeugnis liest, dass das Kind eine schlechte Schrift habe und sein Epochenheft nicht schön führt. Solches schreibt der Klassenlehrer. Bei den Fremdsprachen finden sich dann ähnliche Formulierungen. Ein Jahr später wiederholen sich diese Bemerkungen. Und so geht es Jahr für Jahr weiter.

Vielleicht meinen die Lehrer des Kindes, dass es wichtig sei, den Eltern dies immer wieder mitzuteilen, und erhoffen sich wohl auch Hilfe oder Einflussnahme auf das Kind.

Man verkennt dabei die Möglichkeiten der Eltern wirklich entscheidend in dieser Angelegenheit auf ihre Kinder einzuwirken. Eltern können dafür sorgen, dass das Kind lernt, sein Zimmer ordentlich aufzuräumen, aber Epochenheftführung und Schriftbild sind eher schulische Übungsfelder.

Die Folge immer wiederkehrender negativer Formulierungen in den Zeugnissen ist gelegentlich, dass sich die Eltern über die Kinder ärgern, ohne das Problem angehen zu können. Sie schimpfen oder tadeln und natürlich hat das wenig positive Wirkung auf die kindlichen Fähigkeiten.

In einer nächsten Stufe stumpfen manche Eltern gegen solche Bemerkungen ab und lesen darüber hinweg.

Und in einer weiteren Stufen beginnen sie sich über die Lehrerschaft zu ärgern, dass sie nicht in der Lage ist, dem Kind die Fertigkeiten beizubringen, die sie von dem Kind erwartet. Daher kann es sinnvoll sein, sich zu überlegen, wie stark und wie oft man tadelnde Äußerungen in Zeugnissen formuliert. Wirkungsvoller könnte es sein, in einem Zeugnis die Sache einmal humorvoll zu charakterisieren.




Konferenz vom 26.5.1921

Dr.Steiner: „...Nun möchte ich Sie fragen, ob wir die Zeugnisse wieder so ausstellen wie im vorigen Jahr. Es ist eine gute Art Zeugnisse so auszustellen. Genau so, wie im vorigen Jahr.

X.: Wir haben sie optimistisch gehalten.

Dr. Steiner: Es handelt sich darum, dass man die Sätze richtig fasst. Wenn man nicht gut individualisiert, was schwierig ist, dann wird man, wenn man die Sätze zu streng formuliert, sehr viele zurückstoßen. Es würde sich schon darum handeln, wenn jemand ein großer Nichtsnutz ist, dass man schreibt, es wäre dringend zu wünschen, dass er im nächsten Jahr sich zusammennähme. In der Formulierung würde manches liegen. Auch Mängel positiv ausdrücken aber in bezug auf die Formulierung streng sein.

Da sind wir einig, dass wir die Zeugnisse ausstellen wie im vorigen Jahr. Ein möglichst treues Bild. Unten wiederum für jedes Kind einen Spruch ins Zeugnis, der für die Individualität des Kindes richtunggebend sein kann, als Leitmotiv für die Zukunft. Nun würde ich doch gerne haben, da das Kind dieses Zeugnis behält, dass auf jedem Zeugnis alle Lehrer unterschreiben, die tätig waren an dem Kinde. Gerne würde ich haben wollen, dass jedes Kind alle Unterschriften hat. Es ist nicht unbedeutend, dass die Kinder alle Unterschriften haben von den Lehrern, die an dem Kinde gearbeitet haben. Es soll der Name des Klassenlehrers daraufstehen und dabei auch stehen "Klassenlehrer“ so dass das Kind weiß: zu dem gehört es; und die anderen stehen darunter. Es wäre gut, wenn der Lehrer selbst den Text schreibt, der Klassenlehrer den längsten, und jeder andere Lehrer eine kurze Bemerkung. GA 300/1, S.284 f)




Sachlich charakterisieren und bildhaft beschreiben


Besonders gerne werden von Eltern Zeugnisse aufgenommen, in denen es der Klassenlehrerin oder dem Klassenlehrer gelingt, das Kind im Rahmen eines Bildes zu charakterisieren: „Wie ein Wanderer, der aus unbekannten Gegenden seltene Edelsteine mitgebracht hat, so erscheint er. Die kostbarsten Steine hält er noch verborgen, um sie erst auszubreiten, wenn es an der Zeit ist. ...Glockenklar und kräftig erklingt die Stimme beim Rezitieren, wie ein reiner Kristall.... Manche Steine müssen natürlich noch poliert und bearbeitet werden. Diesen Eindruck hat man, wenn man in das Heft der letzten Schreibepoche blickt. Immer wieder rutschen die Buchstaben unter die Zeilenlinie herunter. Manchmal hat man gar Angst, sie könnten aus dem Heft purzeln...“

Man mag diese Schilderung für verbesserungsfähig halten. Aber dem Leser hilft das rote Band des Bildes, das hier verwendet wurde, die Dinge im Gedächtnis zu behalten und das Kind zu verstehen. Es hat etwas Liebevolles und bleibt doch immer sachlich, auch bei den Dingen, die noch zu verbessern sind. Hinzukommt noch der ganz leise Humor, der sich in der Schilderung ausdrückt.

Es wird nicht geschrieben, dass die Schrift nicht gut sei, sondern es wird wertungsfrei beschrieben, was an der Schrift tatsächlich zu beobachten ist.

Dies ist überhaupt der grundsätzliche Schlüssel für die Zeugnis-Charakterisierungen: Die sachliche Beschreibung der Wahrnehmungen. Die Bewertung der Dinge können dann ganz in den Hintergrund treten: „Er liegt meist mit dem Oberkörper auf dem Tisch und die Füße baumeln hinten über die Stuhllehne...“ , statt: „Er sitzt nie ordentlich auf seinem Stuhl.“


Konferenz vom 2.6.1924

Eine Frage wegen der Zeugnisse.

Dr. Steiner: Über Zeugnisse ist nicht gar so viel zu sagen. Wie wir das erste Schuljahr hatten in der Waldorfschule, war es so, dass die Zeugnisse wirklich reizend waren. Es war neu, einmal nicht mit Noten, sondern mit eigener Ausführung die Schüler zu bewerten. Von vielen Seiten wurde das als ungeheuer wohltätig empfunden. Die Sätze sind mit ungeheurer Liebe formuliert. Wenn Sie diese Zeugnisse heute vornehmen, sie sind aus Liebe formuliert.


Als ich aus Anlass der einen Beschwerde die Zeugnisse anschaute fand ich, dass nach und nach die Sache so gekommen ist, dass für eine große Zahl der Lehrer die Zeugnisse ebenso eine solche Last geworden sind, wie draußen in den Schulen, dass man froh ist, wenn man das hinschreibt. Es ist so, dass man sieht, dass keine Liebe mehr darauf verwendet ist. In der trockensten Prosa sind die Dinge formuliert worden. Da ist es schon besser, wir führen 4, 3, 2, 1 ein. Wir müssen mehr Sorgfalt darauf verwenden, in die Formulierung mehr Phantasie hineinzulegen. Mehr Fleiß und Liebe sind anzuwenden, sonst artet es aus, so dass jemand zum Beispiel schreibt: "Kann zwar noch nichts, wird aber schließlich besser gehen“, „benimmt sich ziemlich mangelhaft", und so weiter. Das hat keinen Sinn mehr, ich habe ja nichts dagegen; wenn es als eine zu große Last empfunden wird, so müssen wir in den sauren Apfel beißen und schulmäßige Zeugnisse ausstellen. Das wäre aber schade. Wenn offenbar in den letzten acht Tagen irgendetwas hingeschrieben wird, das dürfte sich nicht einstellen. Es lassen sich nicht Regeln angeben, sonst müsste für jeden Schüler eine besondere Regel da sein. ...


R.St.: „...Man schreibt doch das Zeugnis für diejenigen, welche über das Kind etwas erfahren sollen. Dem Kinde kann man auf viel direktere Art im Laufe des Jahres das mitteilen, was man ihm zu sagen hat. Das Zeugnis sollen die anderen lesen! Dies Zeugnis gibt keine Vorstellung davon, dass der Junge doch das wichtigste Jahr seines Lebens verlebt hat, dass er am Ende des Jahres anders dastand als vorher. Was die positiven Dinge sind, das geht nicht daraus hervor. Um ein solches Zeugnis zu bekommen, hätten wir ihn nicht auf die Waldorfschule bringen müssen. Gewiss kann man sich aufs Schulmeisterross setzen. Wir sollen doch weltmännisch sein.

Die Zeugnisse müssen mit mehr Liebe verfasst werden. Sie sind nicht mit Liebe verfasst. Auf die Schülerindividualität muss man mit mehr Liebe hinsehen. Selbst äußerlich ist dieses Zeugnis schlampig. So etwas schaut schlecht aus. Ein Zeugnis sollte übersichtlich und sauber aussehen. Es wird Kinder geben, wo man veranlasst ist, über die innere Entwickelung zu schreiben. Wenn unsere Einrichtungen so versagen, wäre es besser, wir machen nichts Riskantes. ich fürchte, es wird noch schlimmer werden, weil doch die Sorgfalt für eine solche Individualität nicht da ist. (GA 300/3, S. S.167-9)



Diese Äußerungen Steiners sind sehr deutlich und bewegend. Hilfreich für uns Lehrer ist doch immer dieser Gedanke, dass das Kind mit jedem Schuljahr das wichtigste Jahr seines Lebens in der Schule verbringt oder verbracht hat. Es ist gut, wenn im Zeugnis deutlich wird, wie es sich von Schuljahr zu Schuljahr insgesamt weiterentwickelt hat. Wenn das nicht zu spüren ist, dann muss die Frage entstehen, was die Lehrerschaft ein ganzes Jahr lang für das Kind unternommen hat.


Praktische Vorgehensweise


Besonders hilfreich ist es, wenn man sich während des ganzen Schuljahres immer wieder bei der Nachbereitung am Nachmittag Notizen zu einzelnen Kindern macht. Dabei sind vor allem die Beobachtungen im alltäglichen Unterricht wichtig, wo man gewissermaßen das individuelle Wesen des Kindes wie an einem Zipfel zu fassen bekommt. Man lässt z.B. Kinder in irgendeiner Jahrgangsstufe im Unterricht zur Tafel kommen und eine Aufgabe vorrechnen. Dann hat man in der Art und Weise, wie ein Kind zur Tafel kommt, ob es zögerlich oder zügig aufsteht, ob es fest auftritt oder tänzelt, wie es die Kreide anfasst, wie es den Strich beim Schreiben führt, wie es die Aufgabe löst usw. das ganze Wesen des Kindes ausgebreitet.

Man kann sich diese Dinge meist nur von wenigen Kindern merken, nur bei einigen ist dieser Vorgang auch sehr ausdrucksstark. Bei anderen kann es sein, dass man beim Malen oder im Turnen einen besonderen Eindruck hat. Aber man mache sich am Nachmittag zu einer solchen Offenbarung gleich einige Notizen.

Aus ihnen kann man später mühelos ein gutes Zeugnis entwickeln. In der konkreten, lebendigen Schilderung eines einzigen Vorganges, charakterisiert man gleichzeitig das allgemeine Verhalten des Kindes, seinen Bewegungsduktus, seine Schrift und seine Rechenkenntnisse. Man das dann weiterentwickeln, indem man anknüpft und erwähnt, dass das Kind, so wie es in dem geschilderten Fall an der Tafel geschrieben hat, auch seine Epochenhefte geführt hat. Dass es mit der gleichen Kraft, die im Auftreten seiner Füße lag, Formenzeichnen oder Geometrie betrieben hat. Von einer zentralen Schilderung aus kann man dann nach allen Seiten die anderen Dinge herauswachsen lassen. Es ist gut wenn alles im Zusammenhang steht, denn dann hat man etwas vom Wesen des Kindes erfasst und gibt es an die Eltern weiter. Diese Vorgehensweise hat auch immer etwas Künstlerisches. Und jedes Kind, jeder Mensch ist in Wahrheit ein Kunstwerk und alles bei ihm steht in einem Zusammenhang.

Bei dieser Vorgehensweise braucht man nicht auf alle einzelnen Hauptunterrichtsepochen ausführlicher einzugehen, sondern man kann dann mit ganz knappen Worten anfügen, dass das Kind in ähnlicher Weise auch in den anderen Epochen mitgearbeitet hat. Es kann reichen, die restlichen Epochen in jeweils einem Satz zusammenzufassen.

Bei einem Baum wird man auch nicht jedes einzelne Blatt beschreiben, um ein anschauliches Bild zu vermitteln, sondern mit der Schilderung eines einzigen Blattes hat man schon den Typus erfasst, die anderen Blätter sind dann nur die Variationen des Typus.

Diese Art des Zeugnisschreibens könnte man als eine goetheanistische bezeichnen. In einzelnen Phänomenen drückt sich gewissermaßen das ganze Wesen aus. Die Frage ist nur, einen Ansatzpunkt zu finden. Manchmal braucht es dafür auch eine Eingebung. Es ist das, was Rudolf Steiner andeutet,dass uns Rätsel über Rätsel vor das seelische Auge tritt“. Vor dem Zeugnisschreiben, stehen wir wie vor zwei bis drei Dutzend ungelösten Rätseln. Aber wenn man um die Lösung ringt, dann kommt man innerlich ganz nah an die Kinder heran. Lässt man sich auf diesen zunächst riskanten Prozess ein, dann wird man bei jedem Zeugnisschreiben ein wenig diese Rätsel lösen. Und das ist beglückend. So hört man eben auch von Waldorflehrern, wie sie sich über das Zeugnisschreiben freuen und wie sie hinterher reicher dastehen als vorher.


Dieter Centmayer