Freitag, 23. Oktober 2009

Der unsichtbare Spielkamerad

In einer Religionsstunde im ersten Unterrichtsjahr wurde den Kindern die Frage gestellt, welche Erinnerungen an die Geburt oder die unmittelbar sich anschließende Zeit bei ihnen noch vorlägen. Z.B. ob man sich noch erinnere, mit was oder mit wem man zuerst gespielt habe. Ob man sich z.B. an das erste Spielen mit Geschwistern oder mit jemand anderem erinnere.

Nun öffneten sich die Schleusen. Viele Kinder begannen die „unglaublichsten“ Dinge zu berichten. Da die Dinge ungewöhnlich sind, muss man beim Lesen selbst die eigenen Gedanken und Gefühle prüfen, ob Kritik auftaucht oder nicht. Hilfreich ist, ganz unbefangen zu lesen und sich zu verdeutlichen, dass die Kinder mit großer Leidenschaft, mit ganzer Seele und völlig spontan erzählten. Die Frage ob ihre Beiträge reine Phantasie seien oder nicht, relativiert sich mit der Zeit immer mehr, wenn man die Schilderungen längere Zeit bewegt und prüft. Man spürt, dass die Kinder in diesem Alter eben noch in einer Welt leben, die sich durch große Nähe und Verwandtschaft zur sog. Phantasiewelt auszeichnet. Es liegt vor uns ausgebreitet eben die ganze kindliche Realität.

Es ist deshalb sinnvoll in der Schule gerade in den ersten Schuljahren, die Kinder aus dieser Welt abzuholen und in die umliegende Sinneswelt erst bewusst einzuführen. Falsch wäre der Glaube, dass die Kinder mit ihrem Bewusstsein in der gleichen Art von Realität leben würden, wie der Erwachsene. Sie streifen die Sinneswelt mit ihrem Bewusstsein gewissermaßen nur.
Betonen möchte ich vorweg noch, dass das natürlich alles Gedächtnisaufzeichnungen sind, wodurch einige Details auch ungenau sein mögen; die große Linie aber müsste immer richtig sein.

Doch nun die Kinderberichte:

Ein Mädchen, das über eine gewisse Hellsichtigkeit verfügt, erwähnte gleich einen Engel als Spielkameraden und frühkindlichen Begleiter.
Darauf ein recht handfester, fußballbegeisterter Junge: Wir spielten zu dritt. Meine (etwas ältere) Schwester, „er“ und ich. Wir warfen uns einen so kleinen Ball zu –(er war noch richtig erfreut von der Erinnerung)- , meine Schwester sah den Spielkameraden nicht. Einmal, so schilderte er lachend, habe ich ihm den Ball an den Kopf geworfen. Da meinte der Kleine: Nun spielen wir Kopfball.

Einer meiner eher phlegmatischen Jungen meinte, sein Kamerad hieß „Fußball“. - Dieser Junge ist schon von seiner rundlichen Statur her absolut kein Fußballer- Warum hieß er denn so? War er rund? – Er hatte einen ganz großen Kopf, viel größer als sein Körper. Dann war da noch einer, der hieß "Sinnaj". Er verriet, dass dies sein Name rückwärts gesprochen sei.

Darauf hin erinnerten sich viele an den Namen des Spielgefährten. Es klang wie: Glycko, Nunno, Delino, Naki... Welche Farbe hatte er? Er war gelblich. - Er war rötlich. - Er war blau. - Er war bunt.
Er warf mir immer einen Ball zu . – Wir spielten fangen. –

Wie lange habt ihr denn miteinander gespielt? Es kamen ganz überraschend sichere und klare Antworten: 2 Jahre, 2 ½, 3 oder 4 Jahre.
Nun erzählten die Kinder, wie die gemeinsame Spielzeit endete: Es war an meinem 4. Geburtstag; er kam und sagte „Herzlichen Glückwunsch“. Ich bekam ein Geschenk. Ich packte es aus. Es war etwas Dreieckiges. In dem Dreieck war ein kleiner Mensch. Zum Abschied sagte er: Auf Wiedersehen! Herzlichen Glückwunsch! -

Dieses Mädchen, das am längsten den unsichtbaren Kameraden wahrnahm, ist auch heute noch ziemlich verträumt und „unirdisch“.

Bei allem muss man wissen, dass die Kinder mit viel seelischer Innerlichkeit sprachen, als wäre ihnen alles noch ganz nah. Man spürte beim Berichten viel Freude aufleben. Ein anderes Mädchen erzählte mit Ernst und ein wenig Tadel in der Stimme, dass sie mit drei Jahren in den Kindergarten kam; vom selbigen Tag an blieb der Kamerad weg. Ohne Abschied!

Desweiteren wurde von Geburtstagen berichtet, von Geschenken und von Abschied: Viel Glück! Ich bekam einen Ball, auf dem stand: Viele gute Tore! Und ich bekam ein Blatt, auf dem stand: „Du kommst in eine besonders gute Schule!

Diese Äußerungen klangen immer ein wenig wie ein Lebensvorblick. Damit endete wiederum eine Schulstunde.

Die nächste Stunde: Heute war die besondere Situation, dass die parallel unterrichtende evangelische Religionslehrerin erkrankt war und somit die ganze Klasse beisammen blieb. Da fast die halbe Klasse nicht am vorangegangen Gesprächsprozess teilgenommen hatte, sollte das Unterrichtsthema heute in eine andere Richtung weitergehen, damit alle Kinder gleichermaßen einbezogen wären.

Es wurde aus Rücksicht auf die neu hinzugekommenen Kindern bei der Einleitung nicht das zurückliegende Gespräch über den besonderen Spielkameraden erwähnt, was aber gleich ein Kind zum Anlass nahm, dazwischen zu rufen und der anderen Gruppe davon zu berichten. Da tönt es gleich laut in den Raum: „Ich spiele heute noch mit ihm! Einmal klebte ich an der Decke, da hat er mir herunter geholfen. Es war frisch gestrichen. - Er macht immer viel ‚Mist’. Er kommt auch mit in die Schule und macht Blödsinn.“

Nun war der Damm gebrochen. Die Finger schnellten hoch: „Bei mir auch!“- „Ich auch!“ -Wir spielen immer miteinander. Auch meine kleinere Schwester. Die sieht ihn. Wir gehen meistens ins Zimmer meiner älteren Schwester. Die sieht ihn nicht. Er geht an ihren Schreibtisch und kritzelt auf dem Block herum. Dann fragt mich die Schwester, warum ich so herumgekritzelt habe, ich könne doch eigentlich viel schöner schreiben. Da sage ich, dass ich es gar nicht gewesen sei.

-Am liebsten spielt er Lego. Er ist blau-orange, ja so mit Punkten. –Es folgen ausführliche Schilderungen, was er alles tut. – Morgens vor der Schule laufe ich immer noch einmal schnell in mein Zimmer und bringe ihm ein bisschen Brot. Auch Trinken. Am liebsten sitzt er in dem Becher, in dem ich immer meine Stifte stehen habe, wenn Platz darin ist.

-Er hat einen ganz dicken Bauch und heißt Seo. Der Bauch kann sooo groß sein (von hinten bis zur Tafel). Und die Augen sind so – er zeigt lange Augenschlitze fast bis zum Ohr. Einmal habe ich ihm die Augen nachgeäfft, da hat er gesagt, dass er noch mehr könne und hat die Augen ganz weit wie an Gummibändern herausgezogen.... sooo (er macht der Klasse das alles vor, wiederholt es sogar, so dass es schon unangenehm wird.)

-Meiner hat auch einen Bauch und auf dem Kopf Glühbirnen. Wenn er auf den Bauch drückt, dann leuchten die Glühbirnen. Einmal fand er sich im Dunkeln nicht zurecht, dann hat er sich den Weg selber erleuchtet....

– Die Glühbirnen wurden zweimal erwähnt.

-Meiner hat ganz dünne Beine. Wie ein Haar. -Meiner – er heißt Luis – kommt durch die Terrassentür und läuft in mein Zimmer. Wir spielen. Er hat einen Hut auf. Wenn er – klack- auf den schlägt, dann fällt etwas heraus.- Was denn? Ein Geschenk? Ja, ein Fisch oder ein Hase. – Einmal rannte er in die Küche, da war Teig. Schnapp, hatte er den ganzen Teig aufgegessen. – Was meinte deine Mutter dazu?- Die wusste nicht so recht und sagte, da müsse sie wohl einen neuen Teig machen.

Es kamen folgende Äußerungen: Wir spielen miteinander: Schach, Menschärgeredichnicht – (großes Gelächter), Karten und mit vielen Spielsachen. Beliebt ist auch „Schule“ spielen. „Er hat einmal alle Legosteine ausgekippt. Da kam meine Mutter: Wie sieht das denn bei dir hier aus!“

-Meiner wohnt in einem Fläschchen, er ist so klein. ( Flaschen wurden häufiger erwähnt). Manchmal wird er größer. Er wohnt unter meinem Bett. Wenn’s dunkel im Zimmer ist, kommt er.

-Er werkelt so gern . Arbeitet mit Schere und Pappe. Baut sich ein Häuschen. Da habe ich ihm lauter Streichhölzer gegeben, die Köpfchen abgemacht, da hat er sich Stühlchen und Tischlein gebaut.

-Wenn wir einkaufen gehen, läuft er mit. Dann sitzt er auf oder im Einkaufswagen.

-Meiner will auch immer in die Schule mit. Er will in mein Heft gucken. Manchmal will er auch was von mir. Dann sage ich: Sei still! Dann meinen Sie (also der Lehrer), dass ich schwatze und ermahnen mich. Jetzt ist er auch da! Er ist in meiner Brotbox. – Gleich schallt es durch die Klasse: Meiner auch. Meiner hat gestern sogar in mein Heft gekritzelt – hier in der Schule. Am Ende der Stunde kam der Junge und zeigte mir als Beweis wirklich eine kleine Kritzelei in seinem Heft; aufgeregt lief er dann noch herum und zeigte sie allen.

-Er baut sich kleine Schifflein und fährt auf dem Pool herum. -Er baut sich U-Boote und fährt in meiner Schultasche herum ... – Die Schilderungen werden manchmal so fantastisch, dass man sie nicht mit den gewöhnlichen Begriffen oder Vorstellungen nachvollziehen kann. Man versteht dann die Kinder kaum. Bis man nachdenkt, haben sie schon weitererzählt und man versäumt ein Stück. Manchmal wird es auch so laut in der Klasse, dass man Verständnisschwierigkeiten hat.

Die Stunde geht zu Ende. Ins Klingeln hinein ertönt noch: „Ich habe zwei.......“

Es herrscht eine große Aufregung in der Klasse, die Kinder laufen aufeinander zu und erzählen sich gegenseitig von ihren Erlebnissen. Ein Mädchen kommt zu mir: Ich bastle ihnen einmal so ein Häuschen, wie es mein Kamerad immer macht. Du kannst es mir ja auch malen. – Nein, das muss man basteln.

Nach dieser Stunde fühlte ich mich wie umgepustet. Durch die nun viel größere Zahl der Kinder und ihre Angeregtheit war das Erlebnis noch stärker geworden. Die deutliche Nähe und Aktualität der Schilderungen: Er ist jetzt hier in meiner Brotbox - gab dem Ganzen einen neuen Anstrich.

Nachdem sich in der letzten Stunde die Wesen eigentlich mit dem 3. oder 4 .Geburtstag verabschiedet hatten, waren sie mit neuer Gewalt heute wieder aufgetaucht. Viele Inhalte oder Bilder, die in den Schilderungen auftauchen, erinnern einen an ähnliches aus der Literatur oder aus Filmen. Schnell kommt der Einwand, dass die Kinder von außen in ihrer Phantasie beeinflusst wären und dass sie sich dann ähnliche Dinge ausdenken würden. Der Erwachsene, dessen Gedankenwelt sich ganz an der Sinneswelt orientiert oder der auch als geistig aufgeschlossener Mensch nur gelten lassen kann, was in der Literatur bereits vorhanden ist, wird zu keinem anderen Schluss kommen können.

Wenn man aber davon ausgeht, dass es dem Menschen möglich ist, zu eigenständigen, neuen Erfahrungen und Erkenntnissen unabhängig von der Sinneswelt zu kommen, dann gewinnen die Erzählungen der Kinder an Bedeutung. Ihre Welt ist der nichtsinnlichen Welt, aus der sie stammen, und deren realen Bildern und Wesen noch ganz nah. Als Literatur zu diesem Thema sei noch folgendes Buch erwähnt: „Phantasiegefährten - warum Kinder unsichtbare Freunde erfinden“ von Norbert Neuß, erschienen im Beltz-Verlag 2001. Es ergänzt die obigen Berichte und liefert dazu die üblichen intellektuell-psychologischen Deutungen.