Samstag, 3. Oktober 2009

Schärfere Sinne

Wir sind in einem viel umfangreicheren Sinne Herren unseres Lebens, als wir gemeinhin denken. Viele Erscheinungen des Alterns oder Schwächerwerdens muss man nicht als unabänderlich hinnehmen. Weniger Bewegung führt dazu, dass der Bewegungsapparat schwächer wird. Weniger bewusste Sinneseindrücke lassen die Sinnesorgane sich zurückbilden. Weniger helle Gedanken lassen den Verstand verdunkeln.

Dabei gilt es das rechte Maß zu finden. Es ist nur soviel Aktivität nötig, wie man für eine sinnvolle Lebensführung braucht. Vieles, was als Sport betrieben wird, ist einseitig, und hat mit den Rückwirkungen auf eine vernünftige, sinnvolle Lebensbewältigung nichts zu tun. Kurios ist es auch, wenn z.B. ein Bankangestellter besonders ausgeprägte Armmuskeln demonstriert. Will er damit besonders schwere Geldkassetten transportieren? Er täte etwas Sinnvolleres, wenn er seine Rechen- und Gehirnmuskeln stärken würde, indem er über eine sinnvolle Geldzirkulation nachdächte.

Wir bilden unsere Organe so, wie wir sie brauchen im Lebensprozess. Die Organe bilden sich gemäß unserer Lebenszwecke. Was nicht gebraucht wird, bildet sich zurück. Vernachlässigen wir unser Gefühlsleben, schwächen wir unser Herz. Es wird nur durch lebendige, wahre Gefühle stark, nicht durch körperliche Aktionen.


"Fingerspitzengefühl ist eine Sache des Trainings

Nicht nur die Muskeln schwinden, wenn man sie vernachlässigt, sondern offenbar auch die Sinne. Der Tastsinn verliert bei unzureichender Stimulation zusehends an Schärfe. Das legen die Ergebnisse einer deutschen Studie nahe. Wissenschaftler um Martin Tegenthoff von der Abteilung für Neurologie und Hubert Dense vom Institut für Neuroinformatik der Ruhr-Universität Bochum sind der Frage nachgegangen, wie sich eine mehrwöchige Ruhigstellung der Hand auf das Fühlvermögen der betroffenen Finger auswirkt.

Beteiligt waren an dem Projekt insgesamt 66 gesunde Männer und Frauen, von denen rund die Hälfte eine Hand – wegen eines Bruchs – in Gips trug, während die andere Hälfte beide Hände frei bewegen konnte. Über den Ausgang ihrer Untersuchungen berichteten die Forscher in der Zeitschrift „Current Biology“. Nach Entfernung des Gipses wiesen die Zeigefinder der ruhiggestellten Hand ein vergleichsweise grobes Empfindungsvermögen auf. Die mangelnde Sensibilität äußerte sich in der unzureichenden Fähigkeit, zwei eng beieinanderliegende Tastreize noch als unterschiedliche Stimuli zu erkennen. Verglichen mit der Norm, betrug der Verlust an Wahrnehmungsschärfe rund einen halben Millimeter. Die Einbuße an Sinnesschärfe auf der einen wurde durch einen Zugewinn an Wahrnehmungskraft auf der anderen Seite allerdings mehr als ausgeglichen: Bedingt durch die vermehrte Nutzung, entwickelte die unversehrte Hand nämlich wahre taktile Bestleistungen, die jene der Vergleichspersonen deutlich übertrafen.

Die Veränderungen im Fingerspitzengefühl spiegelten sich nicht zuletzt auch in der Aktivität der übergeordneten Hirnstrukturen. Wie die Autoren in Untersuchungen mit dem Kernspintomographen zeigen konnten, nahm die Durchblutung der für den Tastsinn zuständigen Hirnareale bei verminderter Nutzung der Hand ab, bei vermehrtem Gebrauch hingegen zu. Allen Gipsträgern zum Trost sei hinzugefügt: Zwei Wochen nach Entfernung des steifen Verbands hatte sich das Feingefühl der vormals ruhiggestellten Hand wieder vollständig normalisiert. Auf der unversehrten Seite blieb der Zugewinn an taktilem Feinsinn sogar teilweise bestehen – aus welchem Grund, geht aus der Studie nicht hervor. Möglicherweise hatten sich die Probanden an die besonders intensive Nutzung der betreffenden Hand so sehr gewöhnt, dass sie auch nach Gipsentnahme daran festhielten, obwohl hierzu eigentlich kein Grund mehr bestand.
Nicola von Lutterotti"

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.05.2009 Seite N1