Montag, 2. November 2009

Wenn Eltern zu sehr streben

Eine kleine Anekdote

von Birgitta vom Lehn - Die Welt- 31.10.2009, Seite 8


"Schulferienfreie Zeit, ein Hotel auf einer Nordseeinsel, Mutter gönnt sich ein Auszeit-Wochenende: Eine vierköpfige Familie mit zwei Kleinkindern sitzt neben mir am Frühstückstisch, alle manierlich gekleidet, die Tischsitten - selbst der Jüngsten - beachtlich.
Scherzend werfe ich den Satz herüber: "Das finde ich aber toll, dass Sie sich jetzt hier eine kindergartenfreie Zeit gönnen!" Da antwortet die Mutter schuldbewusst: "Ja, wir arbeiten hier aber auch das Pensum nach, was im Kindergarten gerade versäumt wird." Wie bitte? Passen Sandburgenbauen und Wattwandern nicht mehr zum Etikett "frühkindliche Bildung"? Die Mutter gibt gleich zu erkennen, was sie gemeint hat: "Kennst du ein Tier, das mit O anfängt? Welche Blume fängt mit G an?" Unentwegt traktiert sie ihren vierjährigen Sohn mit "Lernfragen". Das Bürschlein schielt derweil nur zum Büfett hinüber, es scheint die Fragen der Mutter gar nicht wahrzunehmen.
Ein paar Tage später, wieder daheim: Die Mutter eines Klassenkameraden ruft an. Völlig aufgelöst ist sie: Ihr (einziger) Sohn habe "Versagensängste", er habe eine Sache in Mathe noch nicht richtig kapiert, ob unser Ältester das noch mal auf die Schnelle "fernmündlich" erklären könne. Eine Klausur stehe heute an, und es komme doch jetzt auf jeden Punkt an; Medizin wolle Sohnemann studieren, und ein Stipendium, ja, das könne man sich abschminken, wenn nicht alle Noten "erstklassig" seien. Ich bin wieder perplex: Weil die Mutter erstens exakt das Klausurleben ihres 17-jährigen Sohnes verfolgt und zweitens die absehbaren Folgen einer vermeintlichen Niederlage schon im Blick hat. Ihr Sohn ist allerdings ein Einser-, kein Abstiegskandidat. Die Fragen wären also nur die: Schafft er diesmal die Eins oder nur die Zwei? Betreffen die Versagensängste den Sohn oder nur die Mutter? ....
Die Autorin ist freie Journalistin"
Quelle: http://www.welt.de/