Freitag, 30. Dezember 2011

Nicht der Kopf rechnet, sondern der ganze Mensch

Der Anfangsunterricht im Rechnen
Es ist durchaus angemessen in den ersten Schuljahren noch von „Rechnen“ zu sprechen und noch nicht von „Mathematik“. Im Wort Rechnen ist noch eine Tätigkeit erlebbar, die im Begriff Mathe­matik schon verloren gegangen ist.

Rechnen muss man viel stärker als Gliedmaßentätigkeit ansehen und weniger als Kopfprozess, wenn es gesund an die jungen Kinder herangebracht werden soll.
Alles Intellektuelle und Abstrakte bewirkt Verhärtungen in der kindlichen Seele.

Die nun folgenden Darstellungen wurden überwiegend abgeleitet aus den umfangreichsten Hinwei­sen Rudolf Steiners zum Rechnen, die er im Jahre 1924 in England, in Torqay, gegeben hat. Diese findet man in dem Buch „Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit“.

Das Wesen der Zahlen

In der ersten Rechenepoche wird man die Zahlen in der Klasse einführen. Dabei geht man innerlich nicht von einer Zahlenvorstellung aus, wo jede Zahl dadurch entsteht, dass man eine eins zu der vorhergehenden addiert. Dies wäre eine rein mengenmäßige Sicht der Zahl. Sondern man geht von einem Bewusstsein aus, das früher der Menschenseele viel näher lag, nämlich, dass die Eins alle Zahlen bereits in sich enthält. Sie ist gewissermaßen wie eine Ureinheit, die zunächst alles in sich enthält. So wie einst die ganze Welt, die Sonne und ihre Planeten, gewissermaßen in einer Ureinheit noch ineinander ruhte. Es handelt sich um dabei im Bilde um den göttlichen Uranfang aller Dinge. Die Eins hat die Qualität der Einheit, der Ganzheit, des Allumfassenden oder auch des lebendigen Organismus. Hier gibt es bereits das Differenzierte, aber alles wirkt in einer Einheitlichkeit für- und miteinander.

Man wird diese Dinge nicht in dieser Weise mit den Kindern besprechen können, aber der Lehrer wird beseelt, begeistert und ganz durchdrungen sein von solchen weltengewaltigen, gar heiligen Vorstellungen und Ideen.

Auch der Mensch war nach den Bildern der Bibel zunächst ein einheitliches, ungetrenntes, ungeteil­tes Wesen. Es wurde nicht zuerst ein Mann erschaffen, sondern ein Mensch, der war zugleich weib­lich und männlich.

Hat man in der passenden Weise in der Klasse die Großartigkeit der Eins charakterisiert, dann wird man u.a. ein Kind vor die Klasse rufen und ihm mit großem Ernst sagen: „Siehst du, du bist ein Mensch, du bist selbst eine Einheit. Du bist wie die Eins.“ Dieses wird für das Kind zu einem un­vergesslichen Erlebnis. Es hat das Gefühl in ein großes Weltgeheimnis eingeweiht worden zu sein. Andere Kinder wollen dann auch, dass man es in dieser Weise deutlich, ernst und bewusst zu ihnen sagt.

Nach ausführlicher Behandlung der Eins geht man weiter zur Zwei. Die Qualität der Zwei empfin­det man dann als die Teilung der Einheit. So wie aus der Ur-Menschen-Einheit das Männliche und das Weibliche als Polarität entstanden. Oder wie in der Schöpfungsgeschichte Tag und Nacht von­einander geschieden wurden. Davor gab es also einen Zustand, in dem beide noch in einer Wir­kungseinheit eins waren. Jetzt wird ein „Gegenüber“ geschaffen. So kommt es zur Möglichkeit der Erkenntnis. Polari­tät bedeutet auch Spannung. Damit entsteht Dynamik und die Möglichkeit von Bewegung und Ent­wicklung.
Der Mensch als einheitliches Wesen bekommt rechts und links; eine rechte Hand und eine linke.

Den Kindern gegenüber weist man gerade daraufhin, dass sie eine rechte und eine linke Hand haben und dass nun die eine Hand auch die andere anfassen kann – das bildet die Möglichkeit der Begegnung ab. Nur eine Hand alleine könnte sich nicht anfassen, sich nicht begegnen.

Die Qualität der Dreiheit erlebt man besonders gut im Bilde von Mutter-Vater-Kind. Bilden Vater und Mutter zunächst als Paar noch eine Polarität, so ist im Kind als Drittem diese Polarität aufgehoben, überwunden, erhöht. Das Kind ist eine neue Einheit. In ihm hat sich der Weltenprozess weiterentwickelt. Es hat eine neue Entwicklungsstufe erreicht.

Die Vierheit erleben wir besonders an den vier Beinen vieler Tiere. Sie stützen so ihre Leiber ab. Sie drücken sich damit weg von der Erde. Tische und Stühle haben oft vier Beine. Mit der Vierheit steht man so richtig und fest auf der Erde. Die Fünfheit lässt uns auf die menschliche Hand blicken und alles das, was man als Mensch in der Arbeit mit ihr für sich und die Welt vollbringen kann. Die Hand mit ihren fünf Fingern wird zum vollkommenen Ausdruck für die tätige Verwirklichung meines Menschseins. Auch zum Gebet kann der Mensch seine falten.

So erlebt das Kind im Erarbeiten der Zahlen am Anfang der ersten Klasse etwas Großes und Bedeutsames. Auch wenn es dabei vielleicht einmal gedanklich etwas nicht gleich in seiner Größe begreifen wird, so fühlt es doch mit seiner ganzen Seele die Wahrheit dieser Zusammenhänge. Es empfindet ja diese Dinge in Wirklichkeit in sich und kann sich so mit den Zahlen auch äußerlich verbinden. Wenn der Lehrer sich in die großen philosophisch-religiösen Zusammenhänge der Zahlenqualitäten genügend gewissermaßen „hineinmeditiert“ hat, dann braucht er auch keine Scheu zu haben, mit den Kindern so zu sprechen. Er wird dann überrascht sein, dass die Kinder selber ganz unbefangen in der geisterfüllsten Weise selber über diese Dinge zu sprechen beginnen.

Man kann dann gut verstehen, dass richtiger Unterricht kein Hineinfüllen von Stoff in den Kinderverstand ist, sondern dass man in Wirklichkeit die Kinder nur zum richtigen Gespräch anzuregen und zu führen braucht, dann quillt die Weisheit quasi von selbst aus ihnen heraus. Wir holen also viel mehr einen solchen Unterrichtsstoff aus ihnen heraus, wir trichtern ihn nicht mehr ein.

Rechnen aus der Bewegung

Unsere Glieder selbst sind nach Zahlengesetzmäßigkeiten gebildet. Der Oberarmknochen verkörpert die Eins. Elle und Speiche im Unterarm sind eine Zweiheit, die in die Beweglichkeit hineinführt. Über die Mittelhandknochen gelangen wir zur Fünfheit der Finger, zur Zehnheit der beiden Hände und zur Zwanzigheit, wenn man die Zehen dazunimmt. Früher dachte man wohl noch viel mehr beim Rechnen an die Zehen, daher auch die Ähnlichkeit der Wörter „zehn“ und „Zehen“. Tasten wir mit dem Daumen die jeweils drei Glieder der anderen Finger ab, dann kommen wir zur Zwölf, nehmen wir die beiden Daumenglieder dazu, dann haben wir die Vierzehn. So wird man erstaunlich viele besondere Zahlenverhältnisse gerade im menschlichen Knochensystem finden. Nun gibt es den Hinweis Rudolf Steiners, dass man sich vorstellen möge, dass das Kind, wenn es seine Glieder bewegt im Grunde unbewusst rechnet. Krümme ich einen Finger, dann mache ich in Wahrheit: eins, zwei, drei.

Wenn wir also mit den Schülern zu rechnen beginnen, dann holen wir die Fähigkeit, die man zum Rechnen braucht, aus seinen Glieder heraus ins Bewusstsein. So wird das erste Rechnen immer viel mit Bewegung zu tun haben. Wir können beispielsweise rhythmisch mit den Kindern im Kreis laufen und sprechen: eins, zwei – eins, zwei – eins- zwei... dabei kann man bei zwei immer mit dem Fuß ein wenig stärker auftreten. Dann ähnlich: eins, zwei, drei... Wir werden zunächst noch nicht weiterzählen: eins,zwei – drei, vier, - das kommt erst später. Nur wenn ein Kind in gutem Rhythmus sich bewegen und dabei zählen kann, wird es in gesunder Weise ins Rechnen hineinfinden. Wir beobachten bei rechenschwachen Kindern immer wieder, dass sie eben auch in der rhythmisch koordinierten Bewegung Schwierigkeiten haben.

So ist es auch etwas durchaus Natürliches, dass Kinder mit ihren Fingern zählen. Sie werden sich zur gegebenen Zeit von alleine davon lösen. Man wird als Lehrer sogar nach Gelegenheiten suchen, auch noch die Zehen mit einzubeziehen. Viel Geschicklichkeit in allen Gliedmaßen ist der Rechenfähigkeits-Entwicklung förderlich.

Man wird dann in sinnvoller Weise die Ziffern einführen und die elementaren Rechenarten mit Kastanien, Nüssen oder etwas anderem Brauchbarem lange und gründlich äußerlich üben. Man kann noch lange damit warten, den Kopf dabei anzustrengen. Aber die Glieder sollen geschickt und fleißig tätig rechnen. Rudolf Steiner spricht davon, dass eben in Wirklichkeit nur der Körper rechnet und dass der Kopf den Rechenprozess gewissermaßen ins Bewusstsein heraufspiegelt, aber nicht selber tätig ist. Er ist nur in dem Sinne tätig, wie der Spiegel tätig ist, wenn er mir mein Spiegelbild zurückwirft. Man könnte auch sagen: Der Körper ist das, was beim Computer der Rechner ist und der Kopf entspricht dem Monitor.

Damit sind einige Prinzipien angesprochen, aus denen heraus die Klassenlehrerin oder der Klassenlehrer im ersten und zweiten Schuljahr in der Waldorfschule den Rechenunterricht entwickelt.

Dieter Centmayer