Sonntag, 24. Mai 2009

Jakob Streit und die Literatur

Am 15.Mai 2009 verstarb Jakob Streit, der wohl bekannteste und fleißigste Bücherschreiber im waldorfpädagogischen Bereich. Seine Bücher sind sogar weit über den Bereich der Waldorfschulen hinaus bekannt und anerkannt. Möglicherweise ist er sogar der beliebsteste Autor aus anthroposophischem Verlag überhaupt.

Angesichts seines umfangreichen Schaffens und auch des Schaffens vieler anderer Autorinnen und Autoren ähnlicher Herkunft stellt sich die Frage nach der Qualität solcher Bücher.

Erzählende Literatur ist Kunst oder soll es sein. Im künstlerischen Prozess gestalten sich die Werke nach einem eigenen inneren geistigen Prinzip. Hilde Domin war ganz ärgerlich als sie gefragt wurde, wie sie denn Gedichte schriebe. Sinngemäß antwortete sie, dass man diese Frage überhaupt nicht beantworten könne, sie sei eigentlich zu dumm - die Frage. Man schreibt Gedichte einfach.

Kunst hängt mit dem Gefühl zusammen. Nicht primär mit Denken oder Wollen. Man kann die großartigsten Gedanken haben und kann sie vielleicht doch nicht künstlerisch zum Ausdruck bringen. Man kann auch etwas schreiben wollen und es geht doch nicht, weil die Inspiration nicht da ist. Diese Erfahrung macht fast jeder Künstler. Man kann auch ein furchtbar fleißiger Schreiber sein und unendlich viele Bücher schreiben, aber auch das ist keine Gewähr für gute Literatur.

Die Inhalte und Sprachbilder eines Buches müssen sich stimmig aneinanderfügen und aufeinander beziehen. Dafür braucht man eine gewisse Empfindungsfähigkeit.

Bei mancher Literatur paart sich nun das Einseitige des Gedanklichen mit dem Fleiß des Schreibenwollens. Das Gedankliche dominiert, wenn man in einem Buch irgendeine Form von Absicht bemerkt: Jetzt schreibt er dieses oder jenes, um z.B. einem Kind eine moralische Belehrung zu erteilen. Oder jetzt will sie eine gute Geisteswissenschaftlerin sein und lässt an dieser oder jener Stelle einen Engel oder ein Elementarwesen auftreten. Da spürt man, dass es gedanklich gewollt ist.

Waldorflehrer sollen ja selber Geschichten erfinden und den Kindern erzählen. In der vertrauten Intimität der eigenen Klasse sind solche Erzählungen Gold wert und stark wirksam. Das Geheimnis liegt dabei besonders auf der Ebene der Imponderabilien: Schon durch die Vorbereitung, die Bemühung, die der Lehrer aufbringt, um seine Geschichte zu erfinden, beginnt er auf die Seelen der Kinder positiv einzuwirken. Am nächsten Tag trägt er mit der Geschichte eine ungeheure Seelenfülle in die Klasse.

Niedergeschrieben verlieren diese Geschichten schon vieles von ihrer Qualität; und gar gedruckt können sie völlig ihren Geist verloren haben.

Alle Gedanken müssen für eine Erzählung solange künstlerisch umgeschmolzen werden, bis sie fast nicht mehr wiederzuerkennen sind. Dann kann daraus Literatur entstehen. Der Stein, dem man in erster Linie noch ansieht, dass er einem Steinbruch entnommen wurde, der ist noch nicht zur Plastik geworden.