Mittwoch, 12. März 2008

Waldorfschule ohne Rudolf Steiner?

Immer wieder liest man in öffentlichen Publikationen, die sich mit der Waldorfschule beschäftigen, inzwischen einerseits viel Positives, was die Unterrichtspraxis und die Entwicklung der Schülerpersönlichkeiten in unseren Schulen angeht.

Negative Äußerungen richten sich im gleichen Kontext oftmals gegen die Verbindung der Waldorfpädagogik oder deren Lehrer mit Rudolf Steiner und der Anthroposophie. Neuerdings auch gegen das Studium geisteswissenschaftlicher Inhalte an den Lehrerausbildungsstätten. Manchmal klingt es so, als stünde der Waldorfpädagogik für ihre allgemeine, öffentliche Anerkennung nur noch Rudolf Steiner im Wege. Würfe sie diesen „alten, überholten Ballast“ ab, dann wäre sie eine wirklich akzeptable, zeitgemäße Erziehungspraxis. Man bemüht sich dann auch, aus dem mehrere zehntausend Seiten umfassenden Gesamtwerk Rudolf Steiners gebetsmühlenartig einige Absätze herauszugreifen, die heute, fast hundert Jahre später in einem ganz anderen Bewusstseinsumfeld verständlicherweise auf heftige Ablehnung stoßen. -Vergleichsweise findet man kaum Autoren, die die evangelische Kirche von heute kritisieren oder deshalb ablehnen, weil sich bei Martin Luther Äußerungen finden, die für das heutige Bewusstsein ungeheuerlich klingen. - Doch durch die entsprechenden Zitate aus dem Werk Rudolf Steiners will man dessen Gesamtleistung und Persönlichkeit in negativer Weise charakterisieren und deutlich machen, dass Rudolf Steiner für die Waldorfschulen heute eher schädlich sei.

Die Waldorfpädagogik hat sich in den fast 80 Jahren ihres Bestehens ständig weiter entwickelt und entfaltet. Es wurden pädagogische Inhalte und Methoden ausgearbeitet, die praktisch von jedem angewandt werden können, unabhängig von seiner persönlichen Ausbildung oder vom Rahmen des jeweiligen Schulsystems.

Von außen betrachtet, braucht man für die Durchführung von Waldorfpädagogik weder Steiner noch die Anthroposophie, auch kein gründliches Studium der Menschenkunde, die als Studiengrundlage die Pädagogik aus der Anthroposophie hervorgehen lässt.

Der so praktizierende Lehrer könnte einen ausgezeichneten Unterricht machen, seinen Unterricht und damit die ganze Pädagogik aber nicht aus menschenkundlichen Gesichtspunkten heraus erneuern und an die Entwicklung der Schülerindividualitäten anpassen. Dann würden z.B. sehr schnell in die Waldorfpädagogik Methoden einfließen, die ihre Herkunft in anderen Überzeugungen, pädagogischen Richtungen oder Zeitströmungen haben. So kann man es z.B. durchaus schon erleben, dass im Fremdsprachenunterricht staatliche Schulbücher verwendet werden. Die Qualität dieser Bücher sei damit gar nicht gewertet.

Wenn sich dieses einbürgern würde, dann würde man mit der Zeit nicht mehr klar unterscheiden, was ist diejenige Waldorfpädagogik, die aus dem Leben mit der Menschenkunde hervorgegangen ist, und was sind die Elemente, die anderer Herkunft sind. Der eigentliche, innere Waldorfgesichtspunkt müsste verwässern oder sich gar mit der Zeit auflösen. Eine solcher Art arbeitende Schule sähe äußerlich einer Waldorfschule sehr ähnlich, hätte vielleicht keine Zensuren und kein Sitzenbleiben, einen Morgenspruch, eine Faustepoche usw. Sie hätte für eine gewisse Zeit den sichtbaren Rahmen, wie ihn üblicherweise heute noch eine Waldorfschule hat.

Es sei gestattet, dies mit einem Vergleich zu verdeutlichen: Wie ein Menschenleib in der ersten Zeit nach seinem Tode dem lebendigen Menschen noch sehr ähnlich sieht, so ist ihm doch das Leben entschwunden, und es wird nicht lange dauern, dann wird dieser Leib sich in den äußeren irdischen Elementen auflösen.

So wäre es auch mit der Waldorfpädagogik: Sie kann lebendig sein, von Leben und Gefühl durchpulst; oder sie kann sich eine gewisse Zeit durch das bereits Erarbeitete erhalten, müsste dann aber zwangsläufig sich mit der Zeit auflösen und vielleicht gar in dem üblichen Schulsystem aufgehen.

Aber wie erhält oder behält die Waldorfschule ihr rechtes Leben, ihre rechte Beseeltheit? Auch dies ist vergleichbar dem menschlichen Organismus: Dieser braucht Nahrung und Luft zum Atmen, dann hat er die nötigen Lebenskräfte, um in der Welt zu wirken und zu schaffen. Der Mensch isst und trinkt nicht, um hinterher aus sich heraus wieder Nahrungsmittel in die Welt hinaus zu geben, sondern er isst, um die Nahrung in Kräfte zu verwandeln.

Beim Waldorflehrer heißt das: Er nimmt Menschenkunde oder Anthroposophie auf wie ein Nahrungsmittel und verwandelt sie in die Kräfte, die er für seine Unterrichtspraxis braucht. Er nimm nicht Geisteswissenschaftliches auf, um es z.B. im Unterricht wiederzugeben, das wäre ein krankhafter und krankmachender Vorgang . Nein, Anthroposophie wird - in rechter Weise verdaut - zu Unterrichts-Kraft. Sie wird zu dem Leben und dem Gefühl, das die Waldorfschulbewegung durchpulst und durchseelt, ihr Kraft gibt und sie auch ständig erneuert. Sie wird zu der Kraft, die im Lehrer aus der Menschenkunde heraus neue Ideen hervorquellen lässt, die in Harmonie zu den momentanen Anforderungen der Schülerpersönlichkeiten stehen. Diese Ideen müssen gar nicht spektakulär sein; es sind z.B. nicht unbedingt großartige Klassenfahrten oder öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen. Mehr verborgen und bescheiden keimen sie im Unterrichtsalltag auf. Eine solche Idee ist schon das „richtige Wort im richtigen Moment“.

Da die im eigentlichen Sinn „bedeutsamen“ Wirkungen der Waldorfpädagogik zunächst eher unauffällig sind, können sie natürlich von außen kaum wahrgenommen werden. Was man aber als Außenstehender erleben kann, das ist die Liebe, mit der die Lehrerpersönlichkeit über die Kinder spricht, ihre Begeisterung, ihr Engagement, die Frische oder Heiterkeit, die in den Umkreis strahlt.

Die Verbindung der Waldorfpädagogik mit Rudolf Steiner belebt, beseelt und begeistert den Schulorganismus in feiner, fast homöopathischer Weise, sie weckt die stärkenden und gesundenden Kräfte.

D.C.

(Veröffentlicht in „Erziehungskunst“ 10/2007)