Henning Köhler packt in der „Erziehungskunst“- 12/2010 wieder einmal ein heißes Eisen an. Aber er verwendet dabei leider dicke Lederhandschuhe, um sich die Finger nicht zu verbrennen. Waldorfpädagogik ist immer etwas Zukünftiges. Sie kann sich nicht mit den autoritären Kräften der Vergangenheit mehr verbünden. Und dennoch wird sie nicht in antiautoritärer Weise, die Kinder führungslos lassen, sondern sie immer in einfühlender, individueller Weise zu führen versuchen:
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"Liebe schmilzt Angst wegoder: Dressurpädagogik? Nein, danke!
von Henning Köhler
„Kinder gehorchen nicht, weil ihre Eltern Disziplin effizient durchsetzen. Ob ein Kind gehorcht oder nicht, hängt von der Beziehung ab.“
Bernhard Buebs »Lob der Disziplin« wird von manchen Waldorfpädagogen sehr geschätzt. Andere schwören auf »Kinderjahre« des Schweizer Kinderarztes Remo Largo. Wie passt das zusammen?
Aus einem »taz«-Interview mit Largo: »Woher kommt die Renaissance des autoritären Erziehungsgedankens?« Largo: »Reine Nostalgie. Ich bin überzeugt: Das autoritäre Zeitalter ist vorbei.« - »Aber schließlich müssen Kindern doch Grenzen gesetzt werden.« Largo: »Eine typisch deutsche Haltung. Ich bin ganz anderer Ansicht. Kinder gehorchen nicht, weil ihre Eltern Disziplin effizient durchsetzen. Erziehung wäre (unter diesen Umständen) ein Albtraum. Ob ein Kind gehorcht oder nicht, hängt von der Beziehung ab.« Für die Lernmotivation gelte dasselbe. »Darüber gibt es Studien. Das ist keine Wohlfühlpädagogik.«
Auch Michael Winterhoffs »Warum unsere Kinder Tyrannen werden« hat in Waldorfkreisen Beifall gefunden. Er regt sich furchtbar über Kinder auf, die nicht unverzüglich jede Anweisung befolgen. Sein Credo: Von früh an mit positiver und negativer Verstärkung - Lob und Tadel - die Psyche des Kindes trainieren! Ein »Angstmogul« sei Winterhoff, befindet Alex Rühle in der »Süddeutschen Zeitung«. Toni Feldner, wie Rühle Vater von zwei Kindern, bekräftigt das Urteil von Rühle über Winterhoff in seinem Buch »Genug erzogen«: »Ich habe mich hart getan mit dem Lesen, es wird einem ganz düster zumute.«
Winterhoff behauptet im Internetportal »Wir Eltern«. vor dem achten Lebensjahr hätten Kinder keine eigene Persönlichkeit, bis zum fünfzehnten, sechzehnten Lebensjahr keinerlei Einsichtsfähigkeit. Largo wirbt dafür, die Individualität des Kindes von Geburt an zu respektieren. So denkt auch der in Waldorfkreisen geschätzte Hirnforscher Gerald Hüther. Beide setzen auf angstfreie Beziehungen und autonomes Lernen. Während Bueb und Winterhoff konsequent auf der Ebene des Machtkampfes argumentieren, sind Largo und Hüther überzeugt: In einem guten sozialen Klima erübrigt sich die Machtfrage. Oder: Die Kunst des Liebens schmilzt die Angst weg.
Miriam Gebhard schreibt in ihrem Buch »Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen«: »Wer heute lauthals fordert, Kinder müssten Disziplin und Gehorsam lernen, wer ständig von ‚Grenzen’ spricht, der muss sich gefallen lassen, dass man ihn an die Vergangenheit erinnert: an all die Ratgeberpäpste, die dazu beigetragen haben, dass deutschen Eltern angst und bange wurde vor ihren kindlichen ‚Tyrannen’.« Die Tyrannen-Litanei und die Forderung nach Dressurpädagogik ist freilich kein Spezifikum des 20. Jahrhunderts. Sie hat eine lange, traurige Tradition.
Ist es überhaupt sinnvoll zu fragen, wo »die Waldorfpädagogik« hinsichtlich des leidigen Themas Macht, Disziplin, Autorität historisch und aktuell zu verorten ist? Irgendwo »zwischen« den Fronten? Ich fürchte, das geht nicht. Die Mischung der Farben Bueb und Largo würde ein indifferentes Graubraun ergeben. Mit Sicherheit kein Lila.
Das ist eine Einladung zur Debatte!"