Mittwoch, 31. März 2010

Das Lesenlernen im Lichte der modernen Hirnforschung

Vor kurzem veröffentlichte ich einen Text zum Lesenlernen :

http://joveniden.blogspot.com/2010/03/lesen-lernen.html

Nun fand ich einen aktuellen Artikel, der sich an meine Ausführungen sinnvoll anschließt:

Schulbücher machen Kindern das Lesen schwer

Quelle: http://www.welt.de/wissenschaft/article6990478/Schulbuecher-machen-Kindern-das-Lesen-schwer.html


30. März 2010

Das Lesen eines Buches ist nicht für alle Schüler ein Vergnügen und bereitet einigen sogar große Schwierigkeiten. Dabei könnten die Texte viel leichter aufgenommen und gespeichert werden, wenn ein paar Regeln beachtet würden. Der Hirnforscher Ernst Pöppel erklärt, warum vielen Kindern das Lesen so schwer fällt.

WELT ONLINE: Eltern und Lehrer beklagen, dass viele Kinder nicht mehr richtig lesen können. Warum ist das so?

Ernst Pöppel: Lesen ist eine der unnatürlichsten Tätigkeiten des menschlichen Gehirns. Deswegen wundert es mich nicht, dass sich Kinder und auch immer mehr Erwachsene vom Lesen abwenden. Das Gehirn hat im Laufe der Evolution keine Strukturen entwickelt, die optimiert für das Lesen wären. Lesen ist ja eine noch recht junge kulturelle Erfindung, die es erst seit rund 4000 Jahren gibt. Die Entdeckung, dass gesprochene Sprache in grafische Elemente umgewandelt werden kann, war die bislang größte Kulturrevolution in der Geschichte der Menschheit.

WELT ONLINE: Was folgt daraus für die Kinder mit Leseschwierigkeiten?

Pöppel: Das menschliche Gehirn wehrt sich geradezu gegen Lesen. Das anstrengungslose Lernen und Verarbeiten von Informationen wird durch Lesen eher behindert. Diese Erkenntnis der Hirnforschung muss man kennen, wenn man Kindern mit Leseschwierigkeiten helfen will.

WELT ONLINE: Wäre es also besser, Informationen verstärkt über Bilder zu vermitteln?

Pöppel: Wir können Informationen über Bilder jedenfalls mit deutlich weniger Anstrengung aufnehmen. Schließlich beschäftigt sich ja die Hälfte des menschlichen Gehirns mit der Verarbeitung von visuellen Informationen. Bevor der Mensch das Lesen lernte, wurde Wissen aus Gehörtem und bildlicher Repräsentation im Gehirn erzeugt. Daran waren beide Gehirnhälften beteiligt. Die Fähigkeit zu lesen hat uns dann zwar den Zugriff auf sehr viel größere Informationsmengen ermöglicht. Durch das Lesen, also der Abstraktion von Gesprochenem, konnte das Wissen vom einzelnen Menschen getrennt und in Büchern und Archiven gespeichert und weitergegeben werden. Doch wir üben da eine Tätigkeit aus, die uns von der Evolution nicht mitgegeben wurde. Der Wirkungsgrad der Wissensvermittlung durch Lesen ist unglaublich gering, wenn man sich nicht gewaltig konzentriert. Wenn ich einen wissenschaftlichen Text lese und seine Bedeutung verstehen will, erfordert das eine hohe Konzentration. Nur mit harter Arbeit lässt sich die Sache durchdringen. Doch jeder kennt auch, dass man bisweilen oberflächlich über einen Text hinwegliest und sich anschließend fragt, was man da überhaupt gelesen hat. Man nimmt also keine Informationen auf. Anders ist das beim Lesen von Gedichten, Novellen oder Romanen. Dabei entsteht in mir selber ohne Anstrengung eine individuelle Geschichte mit meinen inneren Bildern. Die kann ich mir dann viel besser merken.

WELT ONLINE: Was kann man tun, damit Schüler die Inhalte von Schulbüchern besser aufnehmen und behalten?

Pöppel: Die wichtigste Voraussetzung für die Aufnahme von gelesenen Informationen ist die Konzentration. Ohne sie kann man die Bedeutung von Gelesenem nicht wirklich erfassen und verstehen. Schüler, die sich nicht ausreichend konzentrieren können, haben eben auch Schwierigkeiten beim Lesen.

WELT ONLINE: Wie lässt sich deren Lese- und Lernfähigkeit verbessern?

Pöppel: Den jungen Menschen steht heute ein Übermaß an Bildlichkeit anstrengungslos zur Verfügung, zum Beispiel bei Computerspielen oder im Internet. Da wird einfach nicht mehr geübt, sich auf etwas zu konzentrieren. Schulen müssen also insbesondere das Konzentrieren lehren. Schüler und auch Studenten sollten viel häufiger gelesene Texte anschließend verbal wiedergeben. Nur so können sie wirklich gut lernen. Ein wichtiger Punkt ist, dass die Schulbücher aus Sicht der Hirnforschung nicht optimal gestaltet sind. Die einzelnen Textzeilen sind meist viel zu lang und erschweren so das Lesen. Noch schlimmer ist es, wenn die Zeilen sogar unterschiedlich lang sind, weil sie etwa durch freigestellte Bilder unterbrochen sind. Das bereitet dem Gehirn beim Lesen unnötig große Anstrengungen. ...

WELT ONLINE: Videoclips enthalten schnelle Schnitte. Verursacht dies eine schlechtere Konzentrationsfähigkeit?

Pöppel: Ja. Wenn die Bildfolgen zu schnell sind, wird im Gehirn zwar noch eine Anmutung erzeugt, doch keine Information mehr verarbeitet. Durch springende Inhalte wird Aufmerksamkeit letztlich vernichtet. Auch aus diesem Grund fällt es immer mehr Kindern schwer, sich zu konzentrieren. Und sogar in den Hörsälen beobachte ich, dass es den meisten Studenten ziemlich schwer fällt, einfach mal 45 Minuten lang aufmerksam zu sein.

WELT ONLINE: Hat Multitasking einen Einfluss auf die Konzentrationsfähigkeit?

Pöppel: Es gibt hier ein großes Missverständnis. Aus neurobiologischer Sicht gibt es schlicht kein Multitasking. Das Gehirn kann sich immer nur auf eine Sache konzentrieren, denn das Bewusstsein hat zu jedem Zeitpunkt immer nur einen Inhalt. Multitasking kann also nur bedeuten, dass ein Mensch innerhalb eines größeren Zeitraums nacheinander verschiedene Dinge tut. In einem solchen Zeitfenster lassen sich natürlich viele Dinge erledigen. Aber dieser Modus ist ungeeignet, um Wissen aufzunehmen und nachhaltig im Hirn zu verankern. Menschen, die auf diese Weise den ganzen Tag lang Dinge nur erledigen, wissen am nächsten Morgen nicht mehr, was sie gemacht haben......


Pöppel: Ja, so sehe ich das. Es würde in Deutschland einen unglaublichen Innovationsschub geben, wenn alle Menschen mal eine Stunde am Tag nicht kommunizieren und sich mal auf irgendeine Sache richtig konzentrieren würden. Man muss dem Gehirn einfach mal eine Chance geben und es in Ruhe denken lassen. Nur so können neue Gedanken entstehen. Das sollten auch die Pädagogen begreifen. Schule muss neu organisiert werden und schon im Kindergarten sollte man beginnen, aufmerksam zu lernen.

WELT ONLINE: Haben die Lehrer in Ihrer Schulzeit besser als heutige Pädagogen zum Konzentrieren erzogen?

Pöppel: Ja, wenngleich mit falschen Motiven. In meiner Schulzeit wurde man zur Disziplin trainiert. Das hatte den Nebeneffekt, dass wir auch lernten, uns zu konzentrieren. In meinem Internat mussten wir Schüler uns täglich drei Stunden still hinsetzen und uns auf eine Sache konzentrieren – zum Beispiel das Lernen von Vokabeln.

WELT ONLINE: Könnte es nicht sein, dass die Menschen das Lesen in einer voll digitalisierten Welt schließlich doch verlernen werden, weil alle Informationen über Bilder und Gesprochenem vermittelt werden?

Pöppel: Das will ich in der Tat nicht ausschließen. Es könnte sein, dass wir in eine orale Kultur zurückkehren und es nur noch eine kleine Zunft von Menschen geben wird, die lesen können. Denn wenn man es genau nimmt, bräuchten wir die Fähigkeit zu lesen eigentlich schon heute nicht mehr unbedingt.

Das Gespräch führte Norbert Lossau