Dass man das Verhalten von Kindern medikamentös steuert, gehört zu den einschneidensten Neuerungen in Pädagogik und Medizin in den letzten Jahrzehnten.
Die Verabreichung von Medikamenten in diesem Zusammenhang ist ein schwerwiegender Eingriff in das Wesen eines Kindes.
Man kann schwerlich direkt verstehen oder erklären, was durch diese chemischen Substanzen (z.B. Ritalin) in den Kindern geschieht. Deshalb möchte ich versuchen, es mit einem Vergleich darzustellen:
Der Bauer stellt fest, dass auf seinem Felde übermäßig viel Unkraut wächst. Er weiß sich nicht zu helfen. Nun wird ihm nicht von den Fachleuten geraten, dass er eine Hacke nehmen und sich gefälligst an die Arbeit machen solle, um das Unkraut zu beseitigen. Nein, man sagt zu ihm, er müsse ein Dach über das Feld bauen, damit es möglichst dunkel wird und er würde schon bald feststellen, dass kein Unkraut mehr wächst.
Die Fachleute hatten recht, es wuchs bald kein Unkraut mehr. Aber auch kein Weizen.
Da es sich bei dem Verhalten von Kindern in Wahrheit um seelisch-geistige Vorgänge handelt, bemerkt man leider die Folgen der Verabreichung dieser chemischen Substanzen nicht. Man merkt nicht, dass man die im Menschen-Inneren strahlende Sonne der Ich-Kraft gleichzeitig mit auslöscht und dem Kind für die Zeit der Verabreichung alle wirklichen, Ich-haften Entwicklungsmöglichkeiten nimmt.
Aber dieser Gesichtspunkt entzieht sich dem Verständnishorizont heutiger Wissenschaft. In Wahrheit muss Erziehung und Unterricht das Ich des Kindes erreichen, es wecken, stärken und ernähren. Dann beginnt dieses Ich aktiv zu werden und kann selbst - wenn auch auf einer Ebene, die sich dem Bewusstsein zunächst entzieht - eingreifen in die Psyche, die Seele, den Leib und kann die Maßnahmen ergreifen, die ein Mensch für die Gestaltung eines vernünftigen Lebensweges braucht.
Wenn die Abweichung von der Norm zur Störung wird
- WELT ONLINE
Von Wieland Freund 18. Dezember 2008, 01:52 UhrNach dem Tod eines 16-Jährigen stellt sich die Frage: Wird mit AD(H)S eine Krankheit konstruiert?Skandal oder kein Skandal? .... ein 16-Jähriger aber hat sich im Dezember 2005 tatsächlich umgebracht. Er war nach "Frontal"-Recherchen wegen psychischer Erkrankungen mit Strattera behandelt worden - die Suizidalität dieses Medikaments ist seit Jahren bekannt. Ist das ein Medienskandal? Ein Fall von öffentlich-rechtlichem Alarmismus?
Der GEK-Arzneimittelreport spricht dagegen. Ihm zufolge wird in der Gruppe der Elf- bis 14-Jährigen mittlerweile mehr Geld für ADHS-Medikamente als für Erkältungsmittel ausgegeben. 400 000 Mal sei die Diagnose ADHS in Deutschland bisher gestellt worden, heißt es. Eine andere Quelle besagt, etwa jedes 20. Kind sei betroffen. Sind Aufmerksamkeitsdefizite (AD) und Hyperaktivität (das H in ADHS) die Reaktion der Kinder auf eine überreizte, hyperaktive Welt und damit eine Zivilisationsstörung? Oder ist ADHS womöglich ein gesellschaftlicher Virus - von der Informationsgesellschaft übertragen wie die Schlafkrankheit von der Tsetsefliege? Wohlgemerkt: Das "Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit oder ohne Hyperaktivität" wird nicht im Labor, sondern durch Fragebögen diagnostiziert, die für ein und dasselbe Kind - je nachdem, wer die Bögen ausgefüllt hat, Eltern, Lehrer oder Erzieher - zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen können. ADS beginnt somit da, wo die Abweichung von einer Verhaltensnorm groß genug scheint, um als Verhaltensstörung gelten zu können. Die Norm selbst allerdings ist, anders als ein Blutwert, nicht absolut, sondern eben relativ - das Ergebnis einer gesellschaftlichen Setzung. Wenn aber jedes 20. Kind als verhaltensauffällig oder verhaltensgestört gilt, liegt dann nicht der Verdacht nahe, dass nicht oder nicht allein die Kinder sich verändert haben, sondern vor allem die Norm eine andere ist?
Die Mainzer Sonderpädagogin Claudia Roggensack spricht in ihrem Buch "Mythos ADHS" von der "Konstruktion einer Krankheit". In einer Zeit "relativ hoher gesellschaftlicher Toleranz von Medikamenten als einfachsten Mitteln zur Problemlösung" scheine es naheliegend, schreibt sie, "eine vermeintliche Abweichung von gesellschaftlich erwünschten Normen auf unproblematische Weise zu regulieren." Das allerdings setze voraus, dass die Abweichung den Status einer Krankheit erhalte. "Denn erst das Vorhandensein einer klar diagnostizierbaren Krankheit erlaubt die Behandlung mit entsprechend medikamentösen Mitteln. Ist aber erst einmal abweichendes Verhalten generell zur Krankheit stilisiert worden, so wird man unschwer aller Orten auf diese Krankheit stoßen." Dem "Deutschen Ärzteblatt" zufolge stieg der Verbrauch von Methylphenidat - besser bekannt als das Psychopharmakon Ritalin - allein zwischen 1993 und 2001 von 34 auf 639 Kilo.
Wie viele der zu einem solchen Mengenverbrauch nötigen Rezepte aber sprechen die Sprache jener "anderen Art des Wahnsinns", die der Philosoph Michel Foucault beschrieben hat - "dieser anderen Art, in der die Menschen miteinander in der Haltung überlegener Vernunft verkehren, die ihren Nachbarn einsperrt, und in der sie an der gandenlosen Sprache des Nicht-Wahnsinns einander erkennen"?
Selbst die "Süddeutsche Zeitung", eigentlich doch einem Medienskandal auf der Spur, gesteht ein, dass die Hälfte der fast 400 000 ADS-Diagnosen in Deutschland nicht belegt ist. Das macht 200 000 auf Verdacht diagnostizierte, zum Teil schwer medikamentierte Kinder und Jugendliche. Ist das Doping für die Bildungsrepublik? Wird "Ritalin oder nicht?" zur elterlichen Gewissensfrage - so wie die auf Spielplätzen vorgetragene irrwitzige Dichotomie der Erziehungsziele "Charakter" oder "Karriere"?
Der Mentalitätswandel scheint radikal. Nach 1945 machte eine gewisse Pippi Langstrumpf Karriere, eine, wie Astrid Lindgren, schreibt, "umtriebige Natur", die weder rechnen will noch rechtschreiben kann, "Plutimikation" sagt und "WAS IR WOLT" meint. Die Ur-Pippi war aus dem Geist des experimentellen Nonsens der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren und wurde mit der Kulturrevolution der Sechziger- und Siebzigerjahre zur Ur-Figur kindlicher Freiheit. Heute bekäme eine reale Pippi wohl Ritalin verschrieben - so wie auch Tom Sawyer, Winnie Puhs quirliger Freund Tigger und der berühmte Zappelphilipp aus Heinrich Hoffmanns "Struwwelpter".
Hoffmann übrigens, zu Zeiten der antiautoritären Bewegung verschrien, war Nervenarzt. Dennoch traute er den Kindern die Fähigkeit zur Einsicht und den Eltern den Willen zur Erziehung zu. "Seht, ihr lieben Kinder, seht, / Wie's dem Philipp weiter geht", heißt es im "Struwwelpeter". Vor einer Generation galt dergleichen noch als Raubein-Pädagogik. Heute müsste Hoffmann beinahe als Kümmerer und Erziehungsoptimist gelten, der statt des Pillendöschens den Zeigefinger schwingt.
Keine Frage: Die Nöte von Kindern und Eltern sind real. Nagende Unsicherheit, zerbrochene Familienstrukturen, enge Räume, schnelle Wechsel, grelle Reize und eine in ihrer Komplexität kaum noch überschaubare Gesellschaft machen ihnen schwer zu schaffen.
Sonderpädagogin Claudia Roggensack spricht in diesem Zusammenhang von einer "großen Erziehungsunsicherheit" der Eltern, zu der die antiautoritäre Bewegung auch noch beigetragen haben mag. Und dennoch: Nicht die vielleicht zweifelhafte Recherche eines Fernsehmagazins, sondern 400 000 ADS-Diagnosen sind der Skandal. Denn ADS wird nicht wie die Schlafkrankheit übertragen, sondern eher wie die "weibliche Hysterie" in den Anfängen der Frauenbewegung.