Montag, 2. November 2009

Die "Anbiederung" - ein größeres Lehrerproblem

Die Dichterin Ulla Hahn hat ihren zweiten autobiographischen Roman "Aufbruch" veröffentlicht. Darin macht die Hauptfigur das Abitur. In Mathematik lautet eine Aufgabe folgendermaßen:
"Jedes Spiel ein Treffer!...Auf einem Schulfest wird ein Glücksrad aufgestellt, wobei die zu gewinnenden Preise... "

Und nun der Kommentar der Abiturientin zu dieser Aufgabe: "Niederschmetternd war das! Schlimmer als alles, was Meyer (der Lehrer) je zuvor an Geschichten aufgetischt hatte. Glücksspiel! ... Und dann diese Anbiederung an das gewöhnliche Leben. Glücksrad und Schulfest...." (S.365)

Es gehört zu den größten pädagogischen Fehlern, wenn der Lehrer meint, er müsse durch den Inhalt der Aufgabenstellung den Schülern entgegenkommen: So erfindet man Rechenaufgaben mit Bonbons und Schokoküssen usw. Oder man beginnt eine Bruchrechen-Epoche mit einem Kuchen.

Die Schülerseele wird wohl äußerlich oft positiv darauf reagieren, es aber auf einer tieferen Ebene verachten.

Es gibt eine Welt, die gehört nicht für pädagogische Zwecke in die Schule gezerrt. Verwendet der Lehrer etwas, das aus der Privatsphäre des Kindes stammt, aus seinem Spiel- oder Festtagsbereich, dann fühlt sich die Kinderseele zutiefst beleidigt. Sie muss das verachten. Sie verachtet auch den Lehrer, der es nötig hat, solche Inhalte zu verwenden, der es locken, verführen, bestechen will.
Das Kind will in die große Welt geführt werden, in eine Welt, die es noch nicht wirklich kennt. Es will nicht, dass der Lehrer seine schönsten Dinge - dazu gehören auch die Süßigkeiten - in den Unterricht trägt.

Man kann ihm dadurch das Schönste verleiden. Ulla Hahn nennt dies "Anbiederung".

Nie werde ich vergessen, wie mir der "Werther" schon dadurch verleidet wurde, dass der Lehrer im Hinterkopf den Gedanken hegte, dieser Stoff wäre etwas, was wir in unserem Alter gerne lesen würden.