Mittwoch, 1. September 2010

Üben, üben und noch mal üben!

Der Autor des folgenden Artikels ist kein Lehrer, das muss man vorweg wissen. Einem Lehrer mögen sich wohl eher die Haare sträuben, wenn er den Artikel unten liest.

Man möge ihn auch in Zusammenhang mit dem lesen, was ich vor einigen Tagen als Zitat von Steiner veröffentlichte: Es gab eine Zeit, wo alle Erziehung viel freiheitlicher war als heute: http:/wir-erziehen-nur-automaten.html

In den Köpfen vieler Eltern und Lehrer spukt der Zaubersatz: „Das muss man doch viel mehr üben!" herum - und macht den Kindern das Leben schwer, da man unter „üben“ doch meist eine mechanisch, wiederholende, langweilige Zwangsarbeit versteht.

Der Autor des Artikels meint, dass diese Vorstellung des Übens erst im 19.Jhdt. auftauchte, als sich die Maschinen ausbreiteten.

Dass Lernen mit dem Gefühl zusammenhängt, wird heute vielfach theoretisch geäußert, aber die alltägliche Lernpraxis sieht noch ganz anders aus:

"DIE WELT: 25.08.10

Essay

Krummes Holz

Es gab einmal eine Zeit, da übte man, indem man variierte und improvisierte. Bis das industrielle Wiederholen überhand nahm, man nennt es auch Pauken und Bimsen. Ein Trugschluss

Von Reinhard Kahl

Der Pianist und Komponist Arthur Schnabel meinte, "Üben ist für Kinder ein Schreckgespenst". Er wollte das Wort deshalb am liebsten verbieten. Das war vielleicht eine vorschnelle Antwort auf ein Üben, bei dem der Weg - und erst recht der Umweg - nichts galt. Es gab allerdings Zeiten, da klang Üben ganz anders als das garstige Wort, das der 1951 verstorbene Schnabel streichen wollte. Da drohte Üben nicht den zermürbenden Weg zu einem fernen Ziel an, das dann zumeist gar nicht erreicht wurde und das die Sache oft mehr verleidete als förderte. Üben bedeutet das genaue Gegenteil davon. Es war ursprünglich das Wort für eine Passion. Es stand dafür, etwas und sich selbst zu vervollkommnen. Diese Übungen waren gewiss nicht leidensfrei und auch nicht ohne Anstrengung, aber es waren Übungen, die schon die Anfänger genossen, denn sie machten hellwach. Sie öffneten die Aufmerksamkeit...

In der Musik lässt sich der Wandel wie unter dem Brennglas beobachten. Bachs "Goldberg-Variationen" zum Beispiel waren als Übungsstücke komponiert, aber eben nicht nach dem Muster "jetzt üben und später können". "Üben und Ausüben waren noch Synonyme", schreibt der Musikwissenschaftler Heiner Klug. Er zeigt in seiner Studie "Musizieren zwischen Virtuosität und Virtualität" (www.art-live.de), wie das Üben im 19. Jahrhundert kippte. Bis dahin galt als Übung "jede Beschäftigung mit dem Instrument, Übung war jedes Spiel, unabhängig vom Niveau: vom Anfänger bis zum Meister, der Vortrag inbegriffen."

Die Notenvorlagen in diesen Übungen bezeichnet Klug als "Muster und Anregungsstücke zum Selbsterfinden". Lehrer improvisierten mit ihren Schülern zuweilen wie heutige Jazzmusiker. Jeder Lehrer komponierte - zumindest auch ein bisschen. Musiker in Orchestern waren nicht bloß die Ausführenden. Sie haben die Kompositionen variiert, so wie eine Geschichte weiter erzählt und dabei modifiziert wird. Üben bedeutete bis zum Anbruch des Industriezeitalters sich ständig zu verbessern. Es bestand aus Wiederholen und Variieren.

Diese Einheit zerbrach im 19. Jahrhundert. Das Variieren wurde schwächer und schwächer, bis es aus dem Üben ganz verschwunden war und nur noch als Fehler zurückblieb. Üben wurde aufs Wiederholen beschränkt und strikt aufs richtige Ausführen des vorher eindeutig Definierten ausgerichtet. Lernen wurde zum Drill. ...

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Individuen müssen ihre eigenen Wege (im Lernen) finden. Die scheinen häufig Umwege zu sein, wenn man nur das Ergebnis im Blick hat. Soll zum Beispiel beim Klavierunterricht der Schüler den kürzesten und schnellsten Weg zwischen den längst vom Komponisten geschriebenen Noten und dem bloß noch zu beherrschenden Instrument zurücklegen, dann stört der Eigensinn des wahrhaft Übenden eigentlich nur. Genau das geschah im Laufe der Industrialisierung, als Arbeit und Lernen standardisiert wurden. Dabei wandelte sich die Bedeutung von Üben. Von nun an tönte es: Üben, üben und noch mal üben. Das Individuum sollte den Betrieb nicht aufhalten. Die Arbeitshaltung des Industriezeitalters setzte Technik an die erste Stelle und entwertete das Subjekt. Es wurde gewissermaßen zum Instrument, auf dem andere spielten. "Der Sinn der Übung als Selbstzweck wurde ersetzt durch den neuen der vorbereitenden Übung", fasst der Musikwissenschaftler Klug seine Studie zusammen...

Der Autor (*1948) ist Regisseur und Produzent von Fernseh- und Videodokumentationen, der sich schon sein Leben lang mit Fragen der Bildung und des Lernens befasst."

Quelle: http://www.welt.de/die-welt/debatte/article9183132/Krummes-Holz.html