Sonntag, 19. September 2010

Wenn Kinder später Lesen lernen

Es gehört nach wie vor zu den größten Eltern- und auch Lehrersorgen, wenn ein Kind nicht in den ersten Schuljahren lesen lernt. Oft kommen dazu auch noch die Sorgen, was das Schreiben und das Beherrschen der Rechtschreibung angeht. Man neigt heute dazu, in diesem Fall Fachleute hinzuzuziehen. Das Kind wird untersucht, getestet, Diagnosen werden erstellt, Förderung und Nachhilfe setzt ein. Ein solches Kind ist von nun an einer enormen Belastung ausgesetzt, da es nicht der Norm entspricht. Sein Entwicklungsstand wird als Schwäche oder gar Krankheit angesehen.

Der Waldorfpädagoge Thomas Jachmann schreibt dazu in seinem Artikel „Die Ausbildung des Gemüts im 2. Jahrsiebt“:

„Sogenannte wissenschaftliche Erkenntnisse postulieren Schwächen und Krankheiten des Schülers, wo vielleicht nur unterschiedliche Entwicklungsverläufe vorliegen, die über die tolerierte Norm hinausgehen und staatliche Erziehungsverordnungen legen einheitlich fest, was zu einem bestimmten Lebenszeitpunkt gewusst und gekonnt werden muss.“ [1]
Nach wie vor gehören Schreiben und Lesen neben dem Rechnen zu den wichtigsten Kulturtechniken. Und so, wie sich die heutige Kultur gestaltet, in der die „Verschriftlichung“ aller Lebensvorgänge immer weiter zunimmt,  hat das Lesen auch einen ganz besonderen Stellenwert.
Nun ist die Fähigkeit, das Lesen zu lernen, bei den Kindern äußerst unterschiedlich. Manche Kinder können schon vor der Einschulung lesen und andere lernen vielleicht erst mühsam in der 4. oder 5. Klasse. Menschenkundlich betrachtet macht es gar keinen Sinn, mit einem Kind, das noch nicht lesen kann oder will, das Lesen direkt anzugehen. Das wäre, wie wenn man von einem Vögelchen, das an seinen Schwingen noch gar keine Schwungfedern entwickelt hat, verlangen würde, dass es fliegen lerne. Es wird versuchen, mit den Flügelstummelchen zu flattern, aber es wird sich kaum erheben können.

Das Lesenlernen erfordert eine Fülle von Sinnes- und Verstandestätigkeiten, die erst einmal entwickelt werden müssen, falls sie nicht schon als Anlage vorhanden sind, wenn das Kind in die Schule kommt. Welch ein schwieriger und komplizierter Prozess das Lesenlernen in Wirklichkeit ist, das beginnt man langsam auch in der Wissenschaft zu verstehen. Der Hirnforscher Ernst Pöppel äußerte sich dazu in einem Interview mit der Tageszeitung „ Die Welt“ am 30 März 2010 in folgender Weise:
„Lesen ist eine der unnatürlichsten Tätigkeiten des menschlichen Gehirns. Deswegen wundert es mich nicht, dass sich Kinder und auch immer mehr Erwachsene vom Lesen abwenden. Das Gehirn hat im Laufe der Evolution keine Strukturen entwickelt, die optimiert für das Lesen wären. Lesen ist ja eine noch recht junge kulturelle Erfindung, die es erst seit rund 4000 Jahren gibt. Die Entdeckung, dass gesprochene Sprache in grafische Elemente umgewandelt werden kann, war die bislang größte Kulturrevolution in der Geschichte der Menschheit...
Das menschliche Gehirn wehrt sich geradezu gegen Lesen. Das anstrengungslose Lernen und Verarbeiten von Informationen wird durch Lesen eher behindert. Diese Erkenntnis der Hirnforschung muss man kennen, wenn man Kindern mit Leseschwierigkeiten helfen will. ...“
Die wichtigste Voraussetzung für die Aufnahme von gelesenen Informationen ist die Konzentration. Ohne sie kann man die Bedeutung von Gelesenem nicht wirklich erfassen und verstehen. Schüler, die sich nicht ausreichend konzentrieren können, haben eben auch Schwierigkeiten beim Lesen.“

Rudolf Steiner drückte das 1919 mit folgenden Worten aus:
„Im Grunde genommen wird das Kind in ganz künstlicher Weise in etwas ihm Fremdes hineingeführt, wenn man es ohne weiteres d a s Lesen und Schreiben lehrt, das heute im dem menschlichen Verkehr üblich ist.“[2]

Der künstlerische Unterrichtsprozess

In der Waldorfschule verfolgt man eine besondere Methode, um an das Schreiben und Lesen heranzugehen. Zunächst einmal wird das Schreiben in einem künstlerischen Prozess erarbeitet. Wir befassen uns mit Zeichnerischem, Malerischem, Rezitatorischem und auch Musikalischem.
„Man tut den Kindern etwas ungeheuer Gutes, wenn man solches an die Kinder heranbringt.
Unsere Kinder werden selbst Schreiben und Lesen aus dem Leben heraus lernen. So ist es beabsichtigt. Sie werden nicht pedantisch dazu angehalten werden, Buchstaben schreiben zu lernen.“[3] „ (Man lehrt ) das Kind .. aus dem künstlerischen Erfassen der Schrift das Schreiben .. und dann aus dem Schreiben das Lesen.“[4]
Das Formenzeichnen bildet eine Grundlage für diesen Prozess. Das Kind soll lernen, auch feine Nuancen in Formgestaltungen zu erfassen und dann selbstständig aufzuzeichnen. Dabei schult es den Sinn, später Buchstabenformen exakt zu erfassen und wiederzugeben.

Ein weiterer Schwerpunkt ist das Musikalisch-Sprachliche. Wer sein Klangempfinden schult, der wird auch die Lautklänge in den Worten geschickter hören lernen. Manch ein Kind kann beispielsweise nur schwer „f“ und „s“ vom Klang her unterscheiden. Durch Gesang und Rezitation wird dies in der Klassengemeinschaft ständig geübt.

Die Waldorfmethode beschäftigt sich zunächst nur am Rande mit dem Lesen. Es wird nach dem Erlernen der Buchstabenformen viel geschrieben und dann auch an dem Geschriebenen freilassend das Lesen geübt. Für Kinder, die noch kaum lesen können, erleichtert sich der Prozess dadurch, dass häufig auch Texte geschrieben werden, die vorher auswendig gesprochen wurden. Völlig fremde, gedruckte Texte bringt man erst später an die Kinder heran.

Im obigen Zitat heißt es, dass die Kinder das Lesen aus dem Leben heraus lernen. Verfolgt man die Waldorfmethode konsequent, dann kann ohne jegliche Anstrengung, ohne irgendeine besondere intensivere Leseübung die überwiegende Mehrheit der Kinder einer Klasse am Ende des zweiten Schuljahres mehr oder weniger flüssig lesen.
 Leseschwierigkeiten
Nun gibt es immer einige Kinder, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht lesen können oder nur sehr mangelhaft und die sich überhaupt mit dem Schreiben schwerer tun als andere. Hier beginnen  dann meist die allergrößten Sorgen.
Zunächst einmal sollen hier einige Äußerungen Steiners zur Tatsache des späten Lesenlernens angeführt werden. Steiner sah weniger in dem späten Beginn des Lesens ein Problem, das größere Problem sah er in dem zu früh geforderten Lesenlernen. Die intellektuellen Kräfte, die man für das Lesen braucht, sollten aus menschenkundlichen Erwägungen bei einem Kind nicht zu früh geweckt werden, wenn sie nicht schon von Natur aus vorhanden sind. Diese Kräfte sind gewissermaßen zunächst die gleichen Kräfte, denen wir auf einer anderen Ebene unsere körperliche und seelische Gesundheit verdanken. Werden sie in gezielter Weise von den Erziehern zu früh auf den Leseprozess hingelenkt, obwohl das Kind aus sich selbst heraus noch nicht soweit ist, dann müssen sie von anderswo abgezogen werden.
„Das frühe Lesen‑ und Schreibenlernen in     anderen Schulen ist in vieler Beziehung ein Fehler. Denn nicht darum handelt es sich, dass man die Kinder so schnell wie möglich zu gewissen Fertigkeiten bringt, sondern darum, dass man sie dazu bringt, dass sie einmal im späteren Leben tüchtige Menschen werden...“[5]

Steiner weist an anderer Stelle darauf hin, dass ein zu frühes Lesetraining für das einzelne Kind durchaus negative gesundheitliche Folgen haben kann. Diese treten allerdings nicht unmittelbar im kindlichen Alter auf, sondern zeigen sich erst viel später im Leben:
„Sondern es kommt darauf an, dass es vielleicht gar nicht gut ist für das Kind, wenn es zu früh lesen lernt. Denn da sperrt man auch wiederum für das spätere Leben etwas zu , wenn das Kind zu früh lesen lernt. Lernt das Kind zu früh lesen, dann führt man es zu früh in die Abstraktheit hinein. Und Sie würden unzählige spätere Sklerotiker beglücken für ihr Leben, wenn Sie ihnen nicht zu früh das Lesen beibrächten als Kinder.“[6]

Ja, die Äußerungen Rudolf Steiners gehen sogar noch weiter. Es betrachtete einen relativ späten Lesebeginn sogar als durchaus positiv. Die dadurch aufgesparten Kräfte können für den Menschen im späteren Alter durchaus positive Wirkungen haben. Er weist deshalb in seinen pädagogischen Vorträgen immer wieder darauf hin, dass bedeutende Persönlichkeiten häufig relativ spät mit dem Lesen begannen und auch im Schulalter eher Probleme mit dem Schreiben hatten.
„Erst legen wir uns die Frage vor, ob es überhaupt berechtigt ist, zu verlangen, dass das Kind schon im achten Jahr mit einer gewissen Fertigkeit lesen können, schreiben können soll. ... Wer Goethe genau kennt, der kann auch wissen: Wenn man mit dem, was für einen zwölfjährigen Jungen heute schulmäßige Anforderungen sind, an Goethe herangeht und sich fragt, hat Goethe das wirklich so gekonnt? ‑ wird man sehen, er hat es nicht einmal mit sechzehn Jahren gekonnt und ist doch der Goethe geworden.
Österreich hatte einen bedeutenden Dichter, Robert Hamerling. Er hat natürlich in seiner Jugend sich nicht vorgenommen, ein Dichter zu  werden, das machte sein Genie, aber er wollte Mittelschullehrer werden. Er hatte eine Lehramtsprüfung abgelegt. In seinem Zeugnis steht, dass er im Lateinischen und Griechischen ganz außerordentlich gute Kenntnisse  aufgewiesen habe, dass er aber nicht fähig sei, die deutsche Sprache zu handhaben, sondern dass er nur für die unterste Klasse zum Unterricht tauge. Aber er wurde der bedeutendste neuere Dichter Osterreichs.“[7]

„Lesen und Schreiben, so wie wir es heute haben, ist eigentlich erst etwas für den Menschen im späteren Lebensjahre, so im 11., 12. Lebensjahre. Und je mehr man damit begnadigt ist, kein Lesen und Schreiben vorher fertig zu können, desto besser ist es für die späteren Lebensjahre. ... ich kann da aus eigener Erfahrung sprechen weil ich es nicht konnte mit 14,15 Jahren...“[8]

Hilfen
Der Waldorflehrer wird sich sehr intensiv innerlich mit einem Kind beschäftigen, das in der besprochenen Weise von der Norm abweicht. Er wird versuchen aufzuspüren, was das Besondere des Wesens dieses Kindes ist. Er wird dann vielleicht finden, dass bei ihm eine Verstärkung verschiedener künstlerischer Betätigungen auch außerhalb des regulären Hauptunterrichtes für die Entwicklung seiner Fähigkeiten hilfreich sein kann.
Oftmals kann er auch feststellen, dass das Kind sich immer wieder in ganz besonderer Art im Unterricht äußert. Diese Äußerungen weichen oft von dem ab, wie andere Kinder sich äußern. Solche Unterrichtsbeiträge können zunächst als falsch oder störend empfunden werden. Bei genauerem Hinsehen oder Nachdenken wird man aber manchmal feststellen, dass sich in diesen Äußerungen etwas sehr Individuelles oder Originelles ausdrücken will. Man wird dann diese Kinder in ganz besonderer Weise in seiner Seele tragen und in ihrer persönlichen Entwicklung unterstützen. Man wird auch versuchen, ihnen einen Schutzraum in der Klasse und überhaupt in ihrer ganzen sozialen Umgebung zu gewähren. Manchmal muss man diesen Schutzraum nach außen hin auch mit Mut und Kraft für das Kind erkämpfen.
Immer mehr wird man bei einer besonders intensiven Beschäftigung mit solchen Kindern darauf kommen, dass sie sogar ganz außerordentliche Kräfte oder Fähigkeiten auf Gebieten haben, die in der heutigen Kultur noch gar nicht anerkannt sind. Sie können vielleicht über eine gewisse Hellfühligkeit verfügen und die Gedanken und Gefühle in ihrer Umgebung erspüren. Sie haben manchmal ein viel intensiveres seelisches Erleben als andere Kinder, was sich in starken Phantasiekräften ausdrücken kann. Dieses zu erkennen und dem  Kind in der richtigen Weise entgegenzukommen, ist die große Aufgabe für Eltern und Erzieher.

Dieter Centmayer
Braunschweig im Juli 2010 

[1]  Zu finden unter: http://www.thomasjachmann.de/artikel/11-die-ausbildung-des-gemuets-im-2-jahrsiebt.html)
[2] „Rudolf Steiner in der Waldorfschule“, GA 298, S. 73
[3] Rudolf Steiner, Idee und Praxis der Waldorfschule, GA 297, S.77
[4] a.a.O. S.210
[5] „Rudolf Steiner in der Waldorfschule“, GA 298 S. 73
[6] Rudolf Steiner, „Die pädagogische Praxis von Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis“, GA 306, S.82
[7] „Rudolf Steiner in der Waldorfschule“, GA 298, S. 129 f
[8] Rudolf Steiner, Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit, GA 311, S.34