Mittwoch, 10. Juni 2009

Falsche Kollegialität

Das folgende Buch enthält für Waldorflehrer meiner Meinung nach ganz ausgezeichnete Hinweise. Hier ein erster kleiner Auszug:


Aus dem
"Überlebenshandbuch für Waldorflehrer"
von Eugene Schwartz

- S.90 ff :


"Stellen wir uns zum Beispiel vor, ein Elternteil sagt dir, "Das Drittklassspiel, das Mrs.Jones mit ihrer Klasse aufgeführt hat, war so schön!" Was machst du mit dieser Bemerkung?

Ich erzähle sie natürlich Mrs. Jones!

Was, wenn die Eltern lügen? Und was, wenn das Spiel wirklich schlecht war?

Warum sollte jemand über so etwas lügen? Und auch wenn das Spiel meiner Meinung nach nicht gut gewesen wäre, möchte ich, dass der Lehrer hört, dass ein anderer positiv beeindruckt war.

Gut. Am nächsten Tag kommt jemand und sagt,"Mein Kind ist in der fünften Klasse bei Mr. Smith und hat noch kein bisschen Grammatik gelernt." Was machst du mit dieser Bemerkung?

... ich ... ich nehme an, . ich würde sie eine Zeitlang für mich behalten...

Warum?

Nun, zuerst möchte ich feststellen, ob es wirklich zutrifft, und dann ...

Und dann?

Ich möchte nicht der Überbringer einer unangenehmen Nachricht sein!

Also, du übermittelst gerne die positiven Bemerkungen, auch wenn sie nur leeres Schmeicheln sind, aber du vermeidest es, eine negative Bemerkung zu übermitteln, auch wenn sie zutreffen sollte, und auch wenn die Qualität der Pädagogik für eine ganze Klasse betroffen ist!

Das ist eine ziemlich starke Formulierung!

Es tut mir leid. Ich habe wahrscheinlich zu oft gesehen, wie gute Schulen abrutschen in den Zustand der Mittelmäßigkeit, wie schlechte Gewohnheiten und faule Lehrer sich einnisten. Es ist auch nicht, weil das Kollegium von den Problemen nichts weiß. Wenn ich manche Schulen besuche, da sind die jüngeren Kollegen nur allzu bereit, die Mängel, die sie bei älteren Lehrern beobachten, mir mitzuteilen! Sie sind nur alle zurückhaltend, den Betroffenen die Kritik persönlich zu übermitteln.

Wenn Eltern etwas Negatives über einen Kollegen sagen, falle nicht darauf herein und denke, "Oh, der Meckerfritze hat immer etwas auszusetzen!" Wie Goethe sagte, auch der, der ungezielt die Mauer beklopft, wird, wenn er lang genug dabei bleibt, ab und zu einen Nagel auf den Kopf treffen! Statt dessen, mach` Folgendes: Sag' den Eltern, dass du gerne bereit, bist die Bemerkung deinem Kollegen mitzuteilen, und dass du ihm vorschlagen wirst, mit den Eltern Kontakt aufzunehmen. Wenn sie möchten, dass die Bemerkungen anonym bleiben, sag' einfach, du unterstützt nur offene Diskussionen, und du wirst die Anonymität nicht annehmen. Wenn die Bemerkungen stichhaltig sind, werden sie das akzeptieren: wenn sie nur Dampf ablassen wollten und dann erfahren, dass du dem Lehrer des Kindes alles erzählen willst, dann werden sie dich nie wieder belästigen!

Als nächstes erzähle deinem Kollegen alles und frage, was er unternehmen will. Seine Antwort ist entscheidend! In den meisten Fällen wird er bereit sein, sofort Kontakt aufzunehmen und du solltest auch nach ein paar Tagen fragen, ob dies tatsächlich geschehen ist. In anderen Fällen mag es sein, dass er dir erklären kann, warum die Bemerkungen nicht zutreffen, aber er sollte trotzdem Kontakt aufnehmen. Wenn er nur explodiert und dir die leidvolle Geschichte erzählt von all dem Stress, den diese Menschen ihm verursachen, sag' ihm, dass es vielleicht an der Zeit ist, dass das Kind eine neue Schule sucht. Aber es mag auch sein, dass es an der Zeit ist, dass dein Kollege sich fragt, ob nicht etwas an dieser Kritik zutrifft.

Wenn du diese schlechte Nachricht nicht übermittelst, so lang sie frisch und relativ harmlos ist, fängt sie an zu eitern. Sie wird Teil der dunklen verborgenen Strömung, die durch manche Konferenz fließt, auch wenn alles noch so zuckersüß an der Oberfläche ist. Stück für Stück werden die Maßstäbe tiefer gesetzt, Qualität erodiert und leise nehmen Eltern ihre Kinder aus der Klasse heraus. Erst wenn Jahre vergangen sind, schließen sich all die kleinen, lösbaren Probleme in eine gigantische Krise zusammen, die das Kollegium überwältigt und zur Entlassung des Lehrers führt.

Eine ziemlich düstere Szene, nicht wahr?

Aber das ist nicht alles!

Die Entlassung des Lehrers wird den Eltern mitgeteilt und es findet ein Treffen statt, bei dem die Gründe, die dazu geführt haben, mitgeteilt werden. Und was passiert dann? Die wenigen Eltern, die mit dem Lehrer zufrieden waren, organisieren eine starke, laute Opposition zu der Entscheidung des Kollegiums, so dass man sich wiederholt treffen muss, bis in den Sommer hinein.

Und die Eltern, die sich jahrelang beschwert hatten? Viele sind nicht mehr an der Schule, und die wenigen die noch da sind, bleiben still während dieser Zusammenkünfte. Siehst du, keiner will für die Entlassung eines Waldorflehrers verantwortlich erscheinen!


Was die klare und einfache Behandlung von Beschwerden und Fragen einzelner Eltern seitens des Lehrers hätte sein können, wird das Chaos von lauten Zusammenkünften, wo jedes negative Gefühl jedes Elternteils gegen jeden Lehrer der Schule ausgesprochen wird! Und wer wird der Leidtragende dieses Schlamassels sein? Genau diejenigen, die nicht die "Übermittler der schlechten Nachricht" sein wollten das Kollegium!