Dienstag, 1. Dezember 2009

Wie geht es weiter mit der Waldorfpädagogik?

Die Waldorfschulen und die Waldorfpädagogik verändern sich, da die Umwelt sich immer schneller wandelt und auch die Schülerseelen neue Anforderungen stellen.

   Die Frage ist dabei, in welcher Art geht die Entwicklung der Waldorfpädagogik vonstatten. Geschehen die Neuerungen aus dem Wesen der Waldorfpädagogik heraus – was auch immer man darunter verstehen mag –, oder fügt man der Waldorfschule in Unterricht oder Schulführung Elemente ein, die aus einem anderen „Geist“ entsprungen sind oder sein könnten.

Hört man Schuleltern, Schüler oder Kollegen über den Unterricht und die Schulen sprechen, dann hört man viel Positives, aber man wird auch immer wieder auf gewisse Mängel hingewiesen. Mit der Zeit stellt man fest, dass einige Mängel wohl nur schwer zu beheben sind oder vielleicht gar unabstellbar scheinen. Man erlebt ungeheure Bemühungen in den Kollegien, z.B. auch durch Beratung von außen, Qualitätssicherungs-Maßnahmen usw. die Schulen zu verbessern. Gleichzeitig beobachtet man, dass viele Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht Großartiges leisten, dass es viele zufriedene Schüler und Eltern gibt, die später auch mit Wohlwollen auf die Schulzeit zurückblicken.
Dennoch gehört es zu unseren Aufgaben, jede einzelne kritische Bemerkung offen – vielleicht sogar dankbar – anzunehmen und zu prüfen. Gewöhnlich erfährt man dadurch viel über die Wirklichkeit der eigenen Arbeit oder über die Art, wie meine Arbeit nach außen wirkt. Kritisiert mich jemand scheinbar unberechtigt, so ist die Realität zumindest die, dass es da einen Menschen gibt, bei dem meine Arbeit solche Gedanken und Gefühle hervorruft. Das ist dann ja auch eine wichtige Tatsache, die ich annehmen muss.

Dass es viele Sorgen, Mängel und Nöte gibt, wird im Augenblick noch dadurch unterstrichen, dass von einer niederländischen Ärztin und ehemaligen Waldorfmutter ein Buch herausgegeben wurde – „Eine Klasse voller Engel“, von Mieke Mosmuller, in dem sie aus langjähriger Erfahrung heraus den Waldorfunterricht und seine Wirkungen auf die Schülerseelen analysiert. Sie geht dabei soweit, dass sie die Notwendigkeit einer noch fundamentaleren und ausführlicheren Waldorflehrerausbildung sieht. Sie führt in diesem Buch aus, wie in der Seele des Waldorflehrers erst gewisse Kräfte oder Empfindungsfähigkeiten geschult werden müssten, bevor er z.B. überhaupt an Steiners Schriften und besonders an die Menschenkunde herangeführt werden kann. Geschieht das nicht in ausreichendem Maße, dann droht immer die Gefahr, dass Wissensinhalte aufgenommen werden, die dann doch nicht zu lebendigen Fähigkeiten werden, sondern zu intellektuellen Urteilen und Gedankenstrukturen führen, die dann wiederum im Unterricht zum Tragen kommen, mit ihrer entsprechenden Wirkung auf die verschiedenen Leiber der Kinder.
Bei der Arbeit an der Menschenkunde in den Kollegien kann man diese Schwierigkeit immer wieder deutlich erleben. Selbst gut ausgebildete Lehrer fragen heute recht schnell nach dem praktischen Bezug, den praktischen Konsequenzen, weil man nicht in den geistigen Verdauungsprozess der Menschenkunde eintauchen kann oder will. Wenn man es einmal mit einem anderen Sachverhalt vergleichen darf: Es kommt einem manchmal so vor, wie wenn ein Mensch nach der Aufnahme von Nahrung sofort erwarten würde, dass er einen Salto machen könne, obwohl er dies vorher noch nie gelernt hat. Der Weg von der Nahrungsaufnahme bis hin zum Beherrschen einer turnerischen Bewegung ist ein langer und mühevoller. Der Weg vom Studium der Menschenkunde bis zur praktischen Umsetzung im Unterricht ist ein viel längerer. Wobei die Sprache der Menschenkunde selbst für viele Kolleginnen und Kollegen – manchmal auch nach mehrjährigem Besuch einer Lehrerbildungsstätte – wie eine Fremdsprache wirkt, für die man oft erst noch ein Organ entwickeln muss, um sie überhaupt hören zu können. So kann es auch sein, dass Lehrer die Menschenkunde jahrelang treu studieren und aufnehmen, im Unterricht aber gar nicht umsetzen. Denn, entwickelt man dieses Organ nicht, dann nimmt man die Menschenkunde mit dem Kopf auf, mit all den Folgen, die das eben mit sich bringt. Diese innere geistig-seelische Organbildung ist das Hauptanliegen von Frau Mosmuller in ihrem Buch.
Wenn die innere – Steiner spricht ja auch von der meditativenVerarbeitung der Menschenkunde gelingt, dann entsteht im Lehrer auch die Fähigkeit, die Waldorfpädagogik weiter zu entwickeln. Denn das ist die Frage, die uns alle ständig bewegt: Wie verwirklichen, wie entwickeln wir Waldorfpädagogik aus ihrem eigenen Wesen heraus weiter.
Steiners Vorträge waren nur ein Anfang, eine Wegweisung, auf der die Lehrer dann in Freiheit weitergehen, alles ausarbeiten und dem jeweiligen Zeitalter oder der jeweiligen Kultur eines Landes gemäß umsetzen sollten.
Nimmt sich die Waldorfschulbewegung weiterhin die Anregungen Rudolf Steiners zum Vorbild oder lässt sie sie fallen, weil sie zu unbequem oder zu schwer zu verwirklichen sind? Der eine Aspekt wäre: Ich studiere die Menschenkunde. Es fällt mir schwer sie umzusetzen, aber ich ringe unermüdlich, sie immer besser zu verwirklichen. Ich erlebe meine Mangelhaftigkeit und meine Fehler, die ich im Umgang mit Schülern mache, aber ich arbeite an der Verbesserung meiner menschenkundlichen Fähigkeiten und an meiner Persönlichkeit. – Oder sage ich mir: „Es ist zu schwierig, keinem gelingt es wirklich, also lasse auch ich die Finger davon.“?
Da haben wir z.B. das pädagogische Thema „Temperamente“. Nun, es gibt heute mehr denn je gute Literatur dazu. Wie ist die alltägliche Unterrichtspraxis? Man konnte vor Jahren erleben, dass auf einmal in der Waldorfschulbewegung ein Satz die Runde machte: Temperamente oder reine Temperamente gibt es heute nicht mehr! Gleichzeitig stellte man fest, dass bei Kinderbesprechungen manchmal gar nicht mehr das Temperament der Kinder erwähnt wurde oder ganz deutliche Fehleinschätzungen vorlagen. Wenn man länger Erfahrung mit dem Unterricht hat, dann fragt man sich, wie kann man überhaupt im Sinne der Menschenkunde unterrichten, ohne sich mit der Temperamentsfrage zu beschäftigen? Es bleiben mir doch ganz wesentliche Teile des Wesens der Kinder völlig verschlossen. Unterrichte ich nicht ganz und gar am Wesen des Kindes vorbei, wenn ich seine Temperamentsart nicht im Bewusstsein habe? Dass das nicht leicht ist und immer eine Herausforderung darstellt, ist natürlich klar. Aber kann man es weglassen?

Es stellt sich die Frage, ob man es in der Waldorfschulbewegung noch als eine kollektive Aufgabe ansieht, diese Dinge zu vertiefen, sie so deutlich in den Mittelpunkt zu rücken, dass jeder junge Lehrer weiß: „Ohne das geht es nicht! Ich mag es jetzt noch nicht vollkommen können, aber ich muss mich darum bemühen!“ Die Phrase: „Reine Temperamente gibt es nicht mehr!“ ist für mich bisher nicht durch die Erfahrung mit den Schülern bestätigt, aber sie hat eine vernichtende Wirkung auf die Weiterentwicklung der Waldorfpädagogik. Sie behindert auch für den bemühten Lehrer geistig seine Wirksamkeit. Wenn der junge Lehrer weiß und erlebt, dass in den Klassen um ihn herum auf die Temperamente eingegangen wird, dann spornt es ihn an, es auch zu tun oder zu lernen.

Ein weiteres Thema wären die „Hausaufgaben“. Steiners Aussagen dazu waren immer ganz klar und deutlich: Er wollte, dass man ohne sie auskomme. Wohl machte er schnell sachte Kompromisse und gab pädagogische Ratschläge, weil die Waldorflehrer damit scheinbar zunächst noch nicht zurechtkamen. Wo stehen wir heute nach 90 Jahren Waldorfschulerfahrung? Arbeiten wir an diesem Thema? Gibt es Fortschritte in der doch klar von Steiner vorgegebenen Aufgabenstellung? Noch immer erlebe ich es als Elternteil, dass mein Kind Hausaufgaben bekommt, ohne dass es den Unterrichtsstoff schon genügend verdaut hätte. Nun muss ich als Elternteil in die Lehrerrolle schlüpfen und dem Kind den Unterrichtsstoff beibringen, und das am Nachmittag oder Abend, nach einem anstrengenden Schul- und Arbeitstag für Kind und Eltern. Oder es gibt Hausaufgaben, wo man gar nicht den Sinn erkennen kann, was denn das Kind bei der Bewältigung dieser Aufgaben lernen solle. Gäbe es da nicht Erkenntnisbedarf auf breiter Ebene in der Schulbewegung?
Anders ist es mit dem Thema „Klassenarbeiten oder Tests“. Vor fast 30 Jahren, als ich als Klassenlehrer begann, hörte ich im Kollegium ganz selten davon, dass einmal in einer Klasse im Epochenunterricht ein „Abschlusstest“ oder etwas Ähnliches geschrieben wurde. Im Gegenteil, ich hatte den Eindruck, dass so etwas fast schon ein Tabu war, und das entsprach auch meiner Überzeugung, die ich aus dem Studium der Waldorfliteratur gewonnen hatte. Steiner äußerte ja z.B. mehrfach, dass der Lehrer immer wissen müsse, wo seine Kinder stehen, was sie können und was nicht.
Heute ist das ganz anders. Immer wieder höre ich von Epochen-Abschlussarbeiten. – In den folgenden Ausführungen sind selbstverständlich nicht die Arbeiten gemeint, die zwangsweise für die Erlangung der öffentlichen Abschlüsse erstellt werden müssen.- In der Oberstufe gar können sich Tests und Arbeiten in einer einzigen Woche häufen. Das verursacht dann auch den Schock mancher Klassen im Übergang von der Klassenlehrerzeit zur Oberstufe. Dann erlebt man aber, dass die Schüler irgendwann im Umgang mit diesen Methoden abstumpfen oder sie werden ehrgeizig, weil sie gute Ergebnisse erzielen wollen. Ausgesprochen wird von den Lehrern sogar, dass man diese Arbeiten als Disziplinierungsmittel und zur Lernkontrolle einsetze, da viele Schüler sonst nichts lernen würden. Es ist doch sicher verständlich, dass das alles mit wirklicher pädagogischer Bemühung um die Schülerindividualitäten nichts mehr zu tun hat.
Hier haben wir also nach meiner Meinung eindeutig eine Wegbewegung von der Waldorfidee. Der Waldorflehrer muss dann in der Folge seine Zeit mit der meist völlig unkreativen, fast geistlosen Tätigkeit der Korrektur dieser Arbeiten verbringen. Was ihn wiederum zeitlich furchtbar belastet und oft auch seine Begeisterungskräfte nicht besonders anfeuert. Oft dauert diese Korrektur über eine Woche, so dass für die Schüler der innerliche Bezug zur „Arbeit“ längst verloren gegangen ist. Damit ist der pädagogische Sinn und die Wirkung der sog. Korrektur meist verloren gegangen. Die Korrektur wirkt nur noch abstrakt. Ich habe schon verzweifelte Schüler erlebt, die wochenlang eine Arbeit nicht zurückbekamen. Macht man sich die seelische Wirkung dieser Dinge in der Schulbewegung überhaupt bewusst oder soll es weiterhin der persönlichen Willkür jedes einzelnen Lehrers überlassen bleiben, was er da macht?

Ein weiteres Phänomen, was sich mit zunehmender Geschwindigkeit in immer jüngere Altersstufen ausbreitet, ist, was man mit zu früher Bewusstmachung oder Forderung nach Selbstreflexion nur schwer umschreiben kann.Oft hört man von Lehrern den Satz bei „schwierigen“ Schülern ausgesprochen: „Der weiß gar nicht, was er tut! Dem muss man mal deutlich sagen, wie er sich verhält.“ Oder man lässt Schüler ihr Verhältnis zu anderen Schülern oder gar die Arbeit der anderen Klassenkameraden beurteilen. Manchmal sollen sie auch schon sich selbst beurteilen. Damit wird von den Kindern eine eindeutige Ichtätigkeit verlangt.
In Portfolio-Hinweisen liest man, dass die Schüler ihre eigene Einschätzung ihrer Arbeit oder Arbeitsvorhaben mit der Realität vergleichen können sollen und daraus Konsequenzen für ihre zukünftige Arbeit ziehen sollen. Das ist eine Forderung, die man einem Erwachsenen stellen kann. Inzwischen habe ich es sogar schon erlebt, dass man in ähnlicher, wohl noch abgeschwächter Weise mit Fünftklässlern spricht.
Das Kind soll doch naiv sein, was sein eigenes Wesen angeht. Es ist für seine seelische Entwicklung hemmend, wenn es etwas über sich selber weiß. Damit ist ihm ein wesentliches Element der Kindlichkeit geraubt. Die Folge sind Ängste und Unsicherheiten bis ins Erwachsenenleben hinein. Überall in der Welt wird dieses zu frühe Erwachen gefördert und gefordert.„Rettet die Kindheit und die Jugend“ müssen wir bald schon uns selber zurufen und uns bei jeder Handlung überlegen, an welches Wesensglied wir uns dabei wenden. Es scheint inzwischen auch bei erfahrenen Waldorflehrern der Instinkt dafür verloren gegangen zu sein. Also muss er durch bewusste Bemühung und Erkenntnisarbeit neu entwickelt werden.
Beim Jugendlichen kann man es nicht vermeiden, dass die Selbstreflexion erwacht – es gehört zu seiner Entwicklung dazu. Da wird man dann als Erzieher eher damit zu tun haben, ihm darüber hinweg zu helfen. Aber man bringt ihn in Seelennöte, wenn man diese Tendenz verstärkt. Es ist doch bei allen Hinweisen Steiners deutlich, wie er vom Lehrer großes pädagogisches Geschick fordert, um indirekt an dem Mangel oder dem Genius des Schülers zu arbeiten, aber nicht ihm sein Wesen und seine Persönlichkeit bewusst zu machen. Das kann erst nach der Ich-Geburt um das 21. Lebensjahr herum sinnvoll werden.
 
So gäbe es viele Punkte, die man betrachten könnte. Bei Mieke Mosmuller „Eine Klasse voller Engel“ werden noch weitere Probleme genannt, die alle in konstruktiver, offener Weise von der Schulbewegung bearbeitet werden sollten: z.B. die Kinderbesprechung, Disziplinarmaßnahmen oder der Umgang mit den Eltern.
Wir sind als Waldorfschulbewegung eine Einrichtung des freien Geisteslebens. Die individuelle Freiheit eines jeden Lehrers und einer jeden Lehrerin ist ein hohes Gut. Die große Ausbreitung der Waldorfschulbewegung hat viel mit diesem freiheitlichen Charakter zu tun. Alles Dogmatische muss abgelehnt werden. Früher wirkte mehr in den Schulen das „Das-macht- man-so!“. Heute wendet man sich von Traditionen (berechtigter Weise) häufig ab. Wie finden wir nun den rechten Weg, dass wir doch zu gemeinsamen, richtungweisenden pädagogischen Erkenntnissen kommen, die dann auf breiter Front in der Schulbewegung wirksam werden? So dass nicht eine Beliebigkeit im Urteilen und Tun die Oberhand gewinnt. Es wirkt heute in der Waldorfschulbewegung bei vielen Gedanken und Taten nicht das „Höhere Ich“, sondern es kommt manchmal zu einem gemeinsamen Einpendeln der Meinungen und Handlungen auf niedrigerem Niveau. Wir müssen erreichen, dass wir die Waldorfpädagogik aus dem Geiste der Bewusstseinseele heraus auf ein immer höheres inneres pädagogisches Niveau heben. Das geht nur dadurch, dass der allergrößte Ernst im Umgang mit Steiners pädagogischen Hinweisen waltet, dass man nicht das Geringste innerlich wegstreicht.

Dieter Centmayer, Freie Waldorfschule Braunschweig