Die Waldorfschulen und die Waldorfpädagogik verändern sich, da die Umwelt sich immer schneller wandelt und auch die Schülerseelen neue Anforderungen stellen.
Die Frage ist dabei, in welcher Art geht die Entwicklung der Waldorfpädagogik vonstatten. Geschehen die Neuerungen aus dem Wesen der Waldorfpädagogik heraus – was auch immer man darunter verstehen mag –, oder fügt man der Waldorfschule in Unterricht oder Schulführung Elemente ein, die aus einem anderen „Geist“ entsprungen sind oder sein könnten.
Hört
man Schuleltern, Schüler oder Kollegen über den Unterricht und die
Schulen sprechen, dann hört man viel Positives, aber man wird
auch
immer wieder auf gewisse Mängel hingewiesen. Mit der Zeit stellt man
fest, dass einige Mängel wohl nur schwer zu beheben sind oder
vielleicht gar unabstellbar scheinen. Man erlebt ungeheure Bemühungen
in den Kollegien, z.B. auch durch Beratung von außen,
Qualitätssicherungs-Maßnahmen usw. die Schulen zu verbessern.
Gleichzeitig beobachtet man, dass viele Lehrerinnen und Lehrer im
Unterricht Großartiges leisten, dass es viele zufriedene Schüler
und Eltern gibt, die später auch mit Wohlwollen auf die Schulzeit
zurückblicken.
Dennoch
gehört es zu unseren Aufgaben, jede einzelne kritische Bemerkung
offen – vielleicht sogar dankbar – anzunehmen und zu prüfen.
Gewöhnlich erfährt man dadurch viel über die Wirklichkeit der
eigenen Arbeit oder über die Art, wie meine Arbeit nach außen
wirkt. Kritisiert mich jemand scheinbar unberechtigt, so ist die
Realität zumindest die, dass es da einen Menschen gibt, bei dem
meine Arbeit solche Gedanken und Gefühle hervorruft. Das ist dann ja
auch eine wichtige Tatsache, die ich annehmen muss.
Dass
es viele Sorgen, Mängel und Nöte gibt, wird im Augenblick noch
dadurch unterstrichen, dass von einer niederländischen Ärztin und
ehemaligen Waldorfmutter ein Buch herausgegeben wurde – „Eine
Klasse voller Engel“, von Mieke Mosmuller
–,
in dem sie aus langjähriger Erfahrung heraus den Waldorfunterricht
und seine Wirkungen auf die Schülerseelen analysiert. Sie geht dabei
soweit, dass sie die Notwendigkeit einer noch
fundamentaleren
und ausführlicheren Waldorflehrerausbildung sieht. Sie führt in
diesem Buch aus, wie in der Seele des Waldorflehrers erst gewisse
Kräfte oder Empfindungsfähigkeiten geschult werden müssten, bevor
er z.B. überhaupt an Steiners Schriften und besonders an die
Menschenkunde herangeführt werden kann. Geschieht das nicht in
ausreichendem Maße, dann droht immer die Gefahr, dass Wissensinhalte
aufgenommen werden, die dann doch
nicht
zu lebendigen Fähigkeiten werden, sondern zu intellektuellen
Urteilen und Gedankenstrukturen führen, die dann wiederum im
Unterricht zum Tragen
kommen,
mit
ihrer entsprechenden Wirkung auf die verschiedenen Leiber der Kinder.
Bei
der Arbeit an der Menschenkunde in den Kollegien kann man diese
Schwierigkeit immer wieder deutlich erleben. Selbst gut ausgebildete
Lehrer fragen heute recht schnell nach dem praktischen Bezug, den
praktischen Konsequenzen, weil man nicht in den geistigen
Verdauungsprozess der Menschenkunde eintauchen kann oder will. Wenn
man es einmal mit einem anderen Sachverhalt vergleichen darf: Es
kommt einem manchmal so vor, wie wenn ein Mensch nach der Aufnahme
von Nahrung sofort erwarten würde, dass er einen Salto machen könne,
obwohl er dies vorher noch nie gelernt hat. Der Weg von der
Nahrungsaufnahme bis hin zum Beherrschen einer turnerischen Bewegung
ist ein langer und mühevoller. Der Weg vom Studium der Menschenkunde
bis zur praktischen Umsetzung im Unterricht ist ein viel längerer.
Wobei die Sprache der Menschenkunde selbst für viele Kolleginnen und
Kollegen – manchmal auch nach mehrjährigem Besuch einer
Lehrerbildungsstätte – wie eine Fremdsprache wirkt, für die man
oft erst
noch ein Organ entwickeln muss, um sie überhaupt hören zu können.
So kann es auch sein, dass Lehrer die Menschenkunde jahrelang treu
studieren und aufnehmen, im Unterricht aber gar nicht umsetzen.
Denn,
entwickelt man dieses Organ nicht, dann nimmt man die Menschenkunde
mit dem Kopf
auf,
mit all den Folgen, die das eben mit sich bringt.
Diese
innere geistig-seelische Organbildung ist das Hauptanliegen von Frau
Mosmuller in ihrem Buch.
Wenn
die innere – Steiner spricht ja auch von der
meditativen
– Verarbeitung
der Menschenkunde gelingt, dann entsteht im Lehrer auch die
Fähigkeit, die Waldorfpädagogik weiter zu entwickeln. Denn das ist
die Frage, die uns alle ständig bewegt: Wie verwirklichen, wie
entwickeln wir Waldorfpädagogik
aus
ihrem eigenen Wesen
heraus
weiter.
Steiners
Vorträge waren nur ein Anfang, eine Wegweisung, auf der die Lehrer
dann in Freiheit weitergehen, alles ausarbeiten und dem jeweiligen
Zeitalter oder der jeweiligen Kultur eines Landes gemäß umsetzen
sollten.
Nimmt
sich die Waldorfschulbewegung weiterhin die Anregungen Rudolf
Steiners zum Vorbild oder lässt sie sie fallen, weil sie zu unbequem
oder zu schwer zu verwirklichen sind? Der eine Aspekt wäre: Ich
studiere die Menschenkunde. Es fällt mir schwer sie umzusetzen, aber
ich ringe unermüdlich, sie immer besser zu verwirklichen. Ich erlebe
meine Mangelhaftigkeit und meine Fehler, die ich im Umgang mit
Schülern mache, aber ich arbeite an der Verbesserung meiner
menschenkundlichen Fähigkeiten und an meiner Persönlichkeit. –
Oder sage ich mir: „Es ist zu schwierig, keinem gelingt es
wirklich, also lasse auch ich die Finger davon.“?
Da
haben wir z.B. das pädagogische Thema „Temperamente“. Nun, es
gibt heute mehr denn je gute Literatur dazu. Wie ist die alltägliche
Unterrichtspraxis? Man konnte vor Jahren erleben, dass auf einmal in
der Waldorfschulbewegung ein Satz die Runde machte: Temperamente oder
reine Temperamente gibt es heute nicht mehr! Gleichzeitig stellte man
fest, dass bei Kinderbesprechungen manchmal gar nicht mehr das
Temperament der Kinder erwähnt wurde oder ganz deutliche
Fehleinschätzungen vorlagen. Wenn man länger Erfahrung mit dem
Unterricht hat, dann fragt man sich, wie kann man überhaupt im Sinne
der Menschenkunde unterrichten, ohne sich mit der Temperamentsfrage
zu beschäftigen? Es bleiben mir doch ganz wesentliche Teile des
Wesens der Kinder völlig verschlossen. Unterrichte ich nicht ganz
und gar am Wesen des Kindes vorbei, wenn ich seine Temperamentsart
nicht im Bewusstsein habe? Dass das nicht leicht ist und immer eine
Herausforderung darstellt, ist natürlich klar. Aber kann man es
weglassen?
Es
stellt sich die Frage, ob man es in der Waldorfschulbewegung noch als
eine kollektive Aufgabe
ansieht,
diese Dinge zu vertiefen, sie so deutlich in den Mittelpunkt zu
rücken, dass jeder junge Lehrer weiß: „Ohne das geht es nicht!
Ich mag es jetzt noch nicht vollkommen können, aber
ich
muss
mich darum bemühen!“
Die
Phrase: „Reine Temperamente gibt es nicht mehr!“ ist für mich
bisher nicht durch die
Erfahrung
mit den Schülern bestätigt, aber sie hat eine vernichtende Wirkung
auf die Weiterentwicklung der Waldorfpädagogik. Sie behindert auch
für den bemühten Lehrer geistig seine Wirksamkeit. Wenn der junge
Lehrer weiß und erlebt, dass in den Klassen um ihn herum auf die
Temperamente eingegangen wird, dann spornt es ihn an, es auch zu tun
oder zu lernen.
Ein
weiteres Thema wären die „Hausaufgaben“. Steiners Aussagen dazu
waren immer ganz klar und deutlich: Er wollte, dass man ohne sie
auskomme. Wohl
machte er schnell sachte Kompromisse und gab pädagogische
Ratschläge, weil die Waldorflehrer damit scheinbar zunächst noch
nicht zurechtkamen. Wo stehen wir heute nach 90 Jahren
Waldorfschulerfahrung? Arbeiten wir an diesem Thema? Gibt es
Fortschritte in der doch klar von Steiner vorgegebenen
Aufgabenstellung? Noch immer erlebe ich es als Elternteil, dass mein
Kind Hausaufgaben bekommt, ohne dass es den Unterrichtsstoff schon
genügend verdaut hätte. Nun muss ich als Elternteil in die
Lehrerrolle schlüpfen und dem Kind den Unterrichtsstoff beibringen,
und das am Nachmittag oder Abend, nach einem anstrengenden Schul- und
Arbeitstag für Kind und Eltern. Oder es gibt Hausaufgaben, wo man
gar nicht den Sinn erkennen kann, was denn das Kind bei der
Bewältigung dieser Aufgaben lernen solle. Gäbe es da nicht
Erkenntnisbedarf auf breiter Ebene in der Schulbewegung?
Anders
ist es mit dem Thema „Klassenarbeiten oder Tests“. Vor fast 30
Jahren, als ich als Klassenlehrer begann, hörte ich im Kollegium
ganz selten davon, dass einmal in einer Klasse im Epochenunterricht
ein „Abschlusstest“ oder etwas Ähnliches geschrieben wurde. Im
Gegenteil, ich hatte den Eindruck, dass so etwas fast schon ein Tabu
war, und das entsprach auch meiner Überzeugung, die ich aus dem
Studium der Waldorfliteratur gewonnen hatte. Steiner äußerte ja
z.B. mehrfach, dass der Lehrer
immer
wissen
müsse, wo seine Kinder stehen, was sie können und was nicht.
Heute
ist das ganz anders. Immer wieder höre ich von
Epochen-Abschlussarbeiten. – In den folgenden Ausführungen sind
selbstverständlich nicht die Arbeiten gemeint, die zwangsweise für
die Erlangung der öffentlichen Abschlüsse erstellt werden müssen.-
In der Oberstufe gar können sich Tests und Arbeiten in einer
einzigen Woche häufen. Das verursacht dann auch den Schock mancher
Klassen im Übergang von der Klassenlehrerzeit zur Oberstufe. Dann
erlebt man aber, dass die Schüler irgendwann im Umgang mit diesen
Methoden abstumpfen oder sie werden ehrgeizig, weil sie gute
Ergebnisse erzielen wollen. Ausgesprochen wird von den Lehrern sogar,
dass man diese Arbeiten als Disziplinierungsmittel und zur
Lernkontrolle einsetze, da viele Schüler sonst nichts lernen würden.
Es
ist doch sicher verständlich, dass das alles mit wirklicher
pädagogischer Bemühung um die Schülerindividualitäten nichts mehr
zu tun hat.
Hier
haben wir also nach meiner Meinung eindeutig eine Wegbewegung von der
Waldorfidee. Der Waldorflehrer muss dann in der Folge seine Zeit mit
der meist völlig unkreativen, fast geistlosen Tätigkeit der
Korrektur dieser Arbeiten verbringen. Was ihn wiederum zeitlich
furchtbar belastet und oft auch seine Begeisterungskräfte nicht
besonders anfeuert. Oft dauert diese Korrektur über eine Woche, so
dass für die Schüler der innerliche Bezug zur „Arbeit“ längst
verloren gegangen ist. Damit ist der pädagogische Sinn und die
Wirkung der sog. Korrektur meist verloren gegangen. Die Korrektur
wirkt nur noch abstrakt. Ich habe schon verzweifelte Schüler erlebt,
die wochenlang eine Arbeit nicht zurückbekamen.
Macht
man sich die seelische Wirkung dieser Dinge in der Schulbewegung
überhaupt bewusst oder soll es weiterhin der persönlichen Willkür
jedes einzelnen Lehrers überlassen bleiben, was er da macht?
Ein
weiteres Phänomen, was sich mit zunehmender Geschwindigkeit in immer
jüngere Altersstufen ausbreitet, ist, was man mit
zu
früher Bewusstmachung
oder
Forderung nach Selbstreflexion nur schwer umschreiben kann.Oft
hört man von Lehrern den Satz bei „schwierigen“ Schülern
ausgesprochen: „Der weiß gar nicht, was er tut! Dem muss man mal
deutlich sagen, wie er sich verhält.“ Oder man lässt Schüler ihr
Verhältnis zu anderen Schülern oder gar die Arbeit der anderen
Klassenkameraden beurteilen. Manchmal sollen sie auch schon sich
selbst beurteilen. Damit wird von den Kindern eine eindeutige
Ichtätigkeit verlangt.
In
Portfolio-Hinweisen
liest man, dass die Schüler ihre eigene Einschätzung ihrer Arbeit
oder Arbeitsvorhaben mit der Realität vergleichen können sollen und
daraus Konsequenzen für ihre zukünftige Arbeit ziehen sollen. Das
ist eine Forderung, die man einem Erwachsenen stellen kann.
Inzwischen habe ich es sogar schon erlebt, dass man in ähnlicher,
wohl noch abgeschwächter Weise mit Fünftklässlern spricht.
Das
Kind soll doch naiv sein, was sein eigenes Wesen angeht. Es ist für
seine seelische Entwicklung
hemmend,
wenn es etwas über sich selber weiß. Damit ist ihm ein wesentliches
Element der Kindlichkeit geraubt. Die Folge sind Ängste und
Unsicherheiten bis ins Erwachsenenleben hinein. Überall in der Welt
wird dieses zu frühe Erwachen gefördert und gefordert.„Rettet
die Kindheit und die Jugend“ müssen wir bald schon uns selber
zurufen und uns bei jeder Handlung überlegen, an welches Wesensglied
wir uns dabei wenden. Es scheint inzwischen auch bei erfahrenen
Waldorflehrern der Instinkt dafür verloren gegangen zu sein.
Also
muss er durch bewusste Bemühung und Erkenntnisarbeit neu entwickelt
werden.
Beim
Jugendlichen kann man es nicht vermeiden, dass die Selbstreflexion
erwacht – es gehört zu seiner Entwicklung dazu. Da wird man dann
als Erzieher eher damit zu tun haben, ihm darüber hinweg zu helfen.
Aber man bringt ihn in Seelennöte, wenn man diese Tendenz verstärkt.
Es ist doch bei allen Hinweisen Steiners deutlich, wie er vom Lehrer
großes pädagogisches Geschick fordert, um
indirekt
an
dem Mangel oder dem Genius des Schülers zu arbeiten, aber nicht ihm
sein Wesen und seine Persönlichkeit bewusst zu machen. Das kann erst
nach der Ich-Geburt um das 21. Lebensjahr herum sinnvoll werden.
So
gäbe es viele Punkte, die man betrachten könnte. Bei
Mieke
Mosmuller „Eine Klasse voller Engel“
werden
noch weitere Probleme genannt, die alle in konstruktiver, offener
Weise von der Schulbewegung bearbeitet werden sollten: z.B. die
Kinderbesprechung, Disziplinarmaßnahmen oder der Umgang mit den
Eltern.
Wir
sind als Waldorfschulbewegung eine Einrichtung des freien
Geisteslebens. Die individuelle Freiheit eines jeden Lehrers und
einer jeden Lehrerin ist ein hohes Gut. Die große Ausbreitung der
Waldorfschulbewegung hat viel mit diesem freiheitlichen Charakter zu
tun. Alles Dogmatische muss abgelehnt werden. Früher wirkte mehr in
den Schulen das „Das-macht- man-so!“. Heute wendet man sich von
Traditionen (berechtigter Weise) häufig ab. Wie finden wir nun den
rechten Weg, dass wir doch zu gemeinsamen, richtungweisenden
pädagogischen Erkenntnissen kommen, die dann auf breiter Front in
der Schulbewegung wirksam werden? So dass nicht eine Beliebigkeit im
Urteilen und Tun die Oberhand gewinnt. Es wirkt heute in der
Waldorfschulbewegung bei vielen Gedanken und Taten nicht das „Höhere
Ich“, sondern es kommt manchmal zu einem gemeinsamen Einpendeln der
Meinungen und Handlungen auf niedrigerem Niveau. Wir müssen
erreichen, dass wir die Waldorfpädagogik aus dem Geiste der
Bewusstseinseele heraus auf ein immer höheres inneres pädagogisches
Niveau heben. Das
geht nur dadurch, dass der allergrößte Ernst im Umgang mit Steiners
pädagogischen Hinweisen waltet, dass man nicht das Geringste
innerlich wegstreicht.
Dieter
Centmayer, Freie Waldorfschule Braunschweig